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TV-Tipp: "Der Junge mit dem Fahrrad" (Arte)
2.5., Arte, 20.15 Uhr
Es hätte einer dieser vielen deprimierenden Filme über das Ende der Kindheit werden können: Ein zwölfjähriger Junge wird von seinem alleinerziehenden Vater ins Heim abgeschoben, gerät an die falschen Freunde und damit auf die schiefe Bahn. Ausgerechnet die belgischen Dardenne-Brüder, deren Filme stets von nüchternem Realismus geprägt sind ("Lornas Schweigen"), gestatten sich in diesem beeindruckenden Sozialdrama jedoch einen Anflug von Märchenhaftigkeit; und sei es auch nur in Gestalt einer mütterlichen Figur, die zur rettenden Fee wird.

Allerdings dauert es eine Weile, bis der junge Held kapiert, welches Wunder sich da in seinem Dasein ereignet hat. Denn eigentlich gibt es im Leben von Cyril nur zwei Parameter: seinen Vater und sein Fahrrad. Durch Zufall erlebt die alleinstehende Friseurin Samantha (Cécile De France, zuletzt "Hereafter" von Clint Eastwood), wie der Junge vergeblich beim Vater klingelt: Der Erzeuger hat sich feige aus dem Staub gemacht; und das Fahrrad hat er verkauft. Samantha kauft es zurück und ist einverstanden, dass Cyril sie an den Wochenenden besuchen darf. Was sie dazu veranlasst, lässt der Film offen; Feen brauchen keine Motive, sie sind von Natur aus gut. Samantha gibt sogar ihrem Freund den Laufpass, als der sie zwingt, sich zwischen ihm und Cyril zu entscheiden. Der Junge wiederum ist ein viel zu unsteter Geist, um zu erkennen, wie gut es das Schicksal mit ihm meint. Zwar findet er mit Samanthas Hilfe endlich seinen Vater, aber das Wiedersehen endet mit dem endgültigen Abschied. Also sucht Cyril nach anderen Vorbildern. Auf diese Gelegenheit hat ein krimineller Jugendlicher aus der Nachbarschaft bloß gewartet: Er stiftet Cyril zu einem Überfall an.

Die im Grunde einfache Geschichte entfaltet trotz ihrer überschaubaren Mittel eine enorme Dynamik: weil Cyril permanent auf Achse ist. Wenn er nicht mit seinem Fahrrad durch die Gegend braust, rennt er anderen Jungs hinterher, die es ihm geklaut haben. Dass die Figur zudem kein Freund großer Worte ist, mag dem dreizehnjährigen Thomas Doret entgegengekommen sein, aber trotzdem ist seine Leistung beachtlich. Er dominiert praktisch jede Szene, zumal der Film konsequent aus seiner Perspektive erzählt wird.

Den Europäischen Filmpreis haben Jean-Pierre und Luc Dardenne dennoch nicht für die beste Regie, sondern für das beste Drehbuch bekommen. "Der Junge mit dem Fahrrad" ist außerdem mit dem "Golden Globe" für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet worden, weshalb er naturgemäß auch große "Oscar"-Chancen hat. Bei den Filmfestspielen in Cannes haben die Brüder den Großen Preis der Jury erhalten. An der Cote d’Azur sind sie ohnehin Stammgäste: Es war nach den Goldenen Palmen für "Rosetta" und "Das Kind" schon die dritte Ehrung.