Was steckt eigentlich unter dem Talar? Im Falle von Annina Ligniez natürlich ein weiblicher Körper. Die Theologin ist 41 Jahre alt und hat neben einer wissenschaftlichen Laufbahn ein Vikariat absolviert. Seit Herbst 2017 ist die schlanke, brünette Frau als Gemeindepfarrerin im Probedienst in Enger tätig. Das ist eine Stadt mit 20.000 Einwohnern im ländlichen Ostwestfalen. Sie hat, sagt Annina Ligniez, ein gutes Verhältnis zu ihrer Gemeinde: "Die Menschen mögen mich, weil ich nahbar bin."
Manche Gemeindemitglieder haben schon die Webseite Talar_art angeklickt, die Ligniez vor zwei Jahren zusammen mit dem freiberuflichen Fotografen Bruno Biermann gestartet hat. Damals arbeitete sie noch als Dozentin für Praktische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, wo Bruno Biermann sich für das Fach Theologie eingeschrieben hatte. Auf Talar_art sind Fotos zu sehen, die er von Annina Ligniez gemacht hat. Sie veranschaulichen, wie ihre Amtskleidung sie verwandelt: von der Privatperson in einen Menschen, der auf der Kanzel steht und predigt. "Pfarrwerdung" nennen sie das.
Die Fotos provozieren. Eine Aufnahme zeigt die Konturen von Annina Ligniez nacktem Körper, während sie unter der Dusche steht. Ein anderes präsentiert sie in dunkler Spitzenunterwäsche. Auf dem nächsten Bild sitzt sie auf einem Stuhl und streift schwarze Strümpfe über ihre Beine. Sie schminkt sich. Sie trägt ein knielanges Kleid, das ihre Figur in Szene setzt. Dann endlich hat sie sich den Talar übergeworfen, jenes Gewand, das die meisten Pfarrerinnen und Pfarrer im Gottesdienst tragen.
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich der Talar als Amtskleidung in der Kirche durchgesetzt. Er soll die Aufmerksamkeit von der Person ab- zu Gottes Wort hinlenken. In der Regel ist der Talar schwarz, voluminös, knöchellang und ehrfurchtgebietend. So auch bei Annina Ligniez. Sie hat viel über das Kleidungsstück nachgedacht, mit Kolleginnen und Kollegen sowie mit Studierenden darüber diskutiert, was er aus Trägerin oder Träger macht, wieviel Körperlichkeit ihr als Pfarrerin zusteht. Ist es zuviel, wenn sie auf einer Beerdigung von jemandem umarmt wird? Nein, findet Ligniez: "Neulich bin ich Hand in Hand mit einer trauernden Person ans Grab getreten." Beide hätten das als tröstlich empfunden. Der Gottesdienst sei überhaupt ein zutiefst leibliches Geschehen: "Wir singen gemeinsam. Und wir stehen auf. Wir sind da mit unserem Körper, und wir spüren auch etwas, körperlich."
Die beiden verstehen Talar_art als Kunstprojekt – und ernten dafür Lob und Tadel. "Außerhalb der Kirche war die Resonanz gut", sagt Ligniez. Sie ist Mitglied eines geschlossenen Forums im Internet, wo sich Mitarbeitende der Kirche über ihr Selbstverständnis und ihren Berufsalltag austauschen. Dort sei sie für die Webseite zum Teil heftig kritisiert worden, unter anderem, weil sie sich damit als Person in den Vordergrund stelle: "Es hieß: 'Wenn man lesbisch ist, hat man Sendungsbewusstsein.'" Ein Pfarrer habe sich hinterher in einer Nachricht an sie für seine harten Worte entschuldigt.
Im Licht der Öffentlichkeit
Annina Ligniez weiß, dass viele Kolleginnen und Kollegen das Bedürfnis haben, sich über ihre Rolle auszutauschen. Sie kennt etliche Pfarrer, die von Selbstzweifeln geplagt sind, sich einsam fühlen und Unterstützung vermissen. Manch einer würde regelmäßig zum Alkohol oder zu anderen Suchtmitteln greifen. In einer Zeit, da viele Menschen die christlichen Kirchen verlassen und Religion nur noch als Zankapfel sehen, erleben Pfarrerinnen und Pfarrer Angriffe von allen möglichen Seiten. Viele tragen selbst dazu bei – durch ihr Verhalten.
Geistliche standen schon immer unter Beobachtung. Während ihres Vikariates erlebte Annina Ligniez, dass ihre Kleidung und Gestik im Gottesdienst "wie durch ein Brennglas wahrgenommen werden". Selbst vermeintliche Kleinigkeiten können eine große Bedeutung bekommen, etwa eine auffällige Brille oder eine Handbewegung. "Ich würde während des Gottesdienstes nie rote Fingernägel tragen", sagt sie. "Und wenn ich im Abendmahlskreis den Leuten Brot und Wein reiche und ziehe eine Parfümwolke hinter mir her, nehme ich den Menschen die Möglichkeit, sich auf das Geschehen einzulassen."
Nach Dienstschluss gehen der Klempner und die Friseurin nach Hause und sind Privatmenschen. Ein Pfarrer bleibt ein Pfarrer, 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr. Er kann in der Öffentlichkeit überall von Gemeindemitgliedern gesehen, seine Posts in sozialen Netzwerken womöglich weltweit kommentiert werden. Darf er nur Fairtraide- und Bio-Produkte kaufen, weil er als Kirchenmann für den gerechten Handel mit den Entwicklungsländern und die Erhaltung der Schöpfung eintreten muss? Oder ist es in Ordnung, wenn er zum Billig-Laden geht? Wie hoch dürfen die Absätze einer Pfarrerin sein, wie kurz ihr Rock? Darf sie öffentlich rauchen? Alles wichtige Fragen, findet Annina Ligniez. "Ich unterstehe dem Pfarrer-Dienstgesetz, das Erwartungen an mich und meine christliche Lebensführung formuliert. Was heißt christliche Lebensführung? Muss ich Familie haben? Darf ich lesbisch sein? Ja. / Nein."
Zumindest diese Frage beantwortet Annina Ligniez eindeutig mit Ja: "Die Liebe ist uns von Gott geschenkt und damit auch Sexualität. Ich finde, das ist eine sehr gute Gabe Gottes!" Was die anderen Fragen anbelangt, so freut sie sich auf weitere Diskussionen mit ihrer Gemeinde und mit Kolleginnen und Kollegen. Dass Menschen so viel über Pfarrer nachdenken, zeigt immerhin, dass sie wichtig sind.