Initiator der Gründung von Aktion Sühnezeichen vor 60 Jahren war der Jurist Lothar Kreyssig. Wieso war aber nicht von Versöhnung die Rede, damals auf der EKD-Synode?
Jutta Weduwen: Versöhnung ist ein Begriff, der für die Sühnezeichen-Arbeit an vielen Stellen nicht passt. Der Gründungsvater Lothar Kreyssig hatte bei der Gründung auf der EKD-Synode 1958 ursprünglich sogar die Idee, die Organisation "Versöhnungszeichen" zu nennen. Es gab dann aber viele Hinweise von Freundinnen und Freunden, von Kirchenvertretern, die gesagt haben: Versöhnung ist ein Ziel, das wir, die wir in der Schuld der nationalsozialistischen Verbrechen stehen, nicht formulieren können. Es gibt eine Täterseite und es gibt eine Seite der Opfer bzw. der Verfolgten.
Die Synode beschloss, dass heranwachsende Deutsche über die evangelische Organisation ein Friedenszeichen, vielleicht sogar so etwas wie "Wiedergutmachung" leisten sollten. Die jungen Menschen helfen den Opfern des Nationalsozialismus zum Beispiel in jüdischen Gemeinden, engagieren sich aber auch in KZ-Gedenkstätten.
Weduwen: Auch von Wiedergutmachen können wir nicht sprechen. Das, was passiert ist, ist nicht wieder gut zu machen. Wir versuchen Kontakt aufzunehmen, wir versuchen Hilfe anzubieten, aber wir können nicht von unserer Seite aus das Ziel der Versöhnung formulieren. Versöhnung steht für zwei Seiten, die sich gestritten haben und die versuchen, sich wieder miteinander zu versöhnen und das ist nicht zutreffend für das, was im Nationalsozialismus passiert ist.
Von deutscher Seite wurde durch die SS, die Wehrmacht, Politiker, Bürokraten, durch die Bevölkerung und die Mitläufer eine Terrorherrschaft und eine Verfolgungs- und Vernichtungspolitik getragen. Und ein Zulassen von Begegnungen von der Opferseite und deren Nachkommen kann nur ein Geschenk für uns sein. Es ist der Versuch, ein Zeichen der Sühne zu setzen in der Anerkennung der Schuld, in einem Bewusstsein der antisemitischen und rassistischen Verfolgung in Geschichte und Gegenwart durch Deutsche. Wir haben darum gebeten, den Verfolgten und ihren Nachkommen zu begegnen, ihnen Unterstützung angeboten. Dass diese Unterstützung angenommen wurde und wird und Begegnung mit Überlebenden und ihren Nachkommen möglich war und ist, ist für uns ein Geschenk. Dadurch ist viel Neues entstanden.
Seit 1968 heißt sie "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste", kurz ASF. Heute unterhält ASF Büros in 13 Ländern und hat in 60 Jahren mehr als 10.000 Freiwillige entsandt. Schwerpunktländer sind Polen, Weißrussland oder Russland, aber auch westeuropäische Länder, in denen die Nazis Unrecht taten.
Weduwen: In der Öffentlichkeit weniger bekannt ist unsere Arbeit in West- und Nordeuropa. Freiwillige engagieren sich zum Beispiel an Gedenkorten in Frankreich, den Niederlanden und Belgien. Die Gedenkorte befinden sich an ehemaligen Transitlagern, Deportationsstellen oder an Orten der nationalsozialistischen Vernichtung.
Und eben Israel. Von den rund 150 Freiwilligen, die ASF jedes Jahr entsendet, gehen etwas mehr als 20 ins Heilige Land.
Weduwen: 1961 konnten die ersten Freiwilligen nach Israel entsandt werden. Dies war vier Jahre, bevor die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland aufgenommen wurden. Wie in Israel hat Aktion Sühnezeichen Friedensdienste auch in anderen Ländern einen großen Beitrag zu den jeweiligen Beziehungen des Landes zu Deutschland geleistet. Besonders die Begegnungen mit Überlebenden des NS-Terrors wurden von ASF geprägt und spielen in den Ländern bis heute eine große Rolle, heute auch in der Begegnung mit den Nachkommen der Verfolgten.
Heute verfügt das Hilfswerk über rund fünf Millionen Euro Budget, es wird gefüllt zu je einem Drittel aus Spenden und Kollekten, kirchlicher Unterstützung und Staatsleistungen. Ist ASF damit gut ausfinanziert?
Weduwen: Ich würde nicht von einem Hilfswerk sprechen. Der Name "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" trifft unsere Intention und aktuelle Arbeit nach wie vor gut. Es bleibt für uns immer eine Herausforderung, die finanziellen Mittel für unsere Arbeit einzuwerben. Daran sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt. Derzeit sieht es gut aus, das heißt, die Unterstützungen durch Spenden und Kollekten sowie durch Zuwendungen von Stiftungen und staatlichen Stellen reicht für unsere Arbeit aus. Diese Zuwendungen stabil zu halten, erfordert immer wieder eine gute Präsentation unserer Arbeit, das bleibt eine wichtige Aufgabe.
Rund 20 Jugendliche kommen aber auch zum Beispiel aus Weißrussland oder Polen nach Deutschland, arbeiten in hiesigen KZ-Gedenkstätten, in jüdischen Gemeinden oder bei Asyl in der Kirche. Dafür erhalten sie ein monatliches Taschengeld von 350 Euro. Dazu eine Monatskarte und freies Wohnen in einem kleinen WG-Zimmer. Ist das nicht ein wenig knapp bemessen?
Weduwen: Nein, das ist nicht knapp bemessen. ASF trägt die Kosten des Freiwilligendienstes, von den Reisekosten, über Versicherung, Seminare, Unterkunft und Verpflegung bis hin zum Taschengeld. Wir orientieren uns an den Kosten vor Ort und an den gültigen Richtlinien internationaler Förderprogramme.
ASF leistet nicht nur Friedensarbeit bei ehemaligen deutschen Kriegsopfern, sondern wendet sich auch explizit gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Mit Gegenwind?
Weduwen: Ja, die Arbeit gegen Rechtsextremismus zieht sich durch die letzten 60 Jahre von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. So gab es bereits in den 1970er Jahren Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit von ASF gegen Rechtsextremismus, etwa in Jugendgruppierungen und in der Musikszene. Es gab eine Ausstellung zu Auschwitz, die von Neonazis angegriffen wurde. In der Deutschen Nationalzeitung von 1976 stand der Hinweis, dass Aktion Sühnezeichen eine der widerlichsten Organisationen des "deutschen Nationalmasochismus" wäre. Diesen Begriff habe ich jetzt bei den rechtspopulistischen und rechtsextremen Verlagen auf der Leipziger Buchmesse wieder entdeckt. Man kann also sagen, dass es Kontinuitäten von Rechtsextremismus und Geschichtsrevisionismus gibt, der allerdings derzeit durch rechtspopulistische Parteien und Bewegungen mehr Zulauf erhält und in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Gleichzeitig gibt es aber auch starke kirchliche und zivilgesellschaftliche Bewegungen, die Flüchtlinge willkommen heißen und Demokratie und Vielfalt befürworten. Diese Bewegungen werden von ASF mitgestaltet.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt nun 73 Jahre zurück, die Zeitzeugen sterben aus. Braucht es da Aktion Sühnezeichen Friedensdienste noch?
Weduwen: Zum einen gibt es wirklich noch viele Überlebende, mit denen wir arbeiten. Sie können die nächsten 10-15 Jahre noch mit uns sein. Und wir erleben immer wieder, dass auch bei den Kindern und Enkelkindern der Überlebenden die Geschichte weiter wirkt und dies auch die Begegnungen mit Deutschen beeinflusst. Die Geschichte zu erinnern, Begegnungen auch der nachfolgenden Generationen zu ermöglichen, bleibt Aufgabe für ASF. Wir erleben, dass Rechtsextremismus und Rechtspopulismus zunehmen und sich damit auch nationalistische Geschichtsklitterungen in vielen Ländern, in denen wir aktiv sind, breitmachen. Daher ist es für Aktion Sühnezeichen Friedensdienste weiter wichtig, dort politisch zu wirken.
Dieses Interveiw erschien erstmals am 30.04.2018.