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TV-Tipp: "Wendezeit"
2.10., ARD, 20.15 Uhr
Mauerbau, Mauerfall, Unrechtsstaat: In den Filmen, die in den letzten dreißig Jahren über die DDR gedreht worden sind, waren die Rollen von Gut und Böse in der Regel klar erkennbar; es sei denn, die Hauptfiguren waren Spione.

Das ZDF hat in dem als Dreiteiler allerdings viel zu langen Film "Der gleiche Himmel" (2017) die Geschichte eines sogenannten Romeos erzählt. Diese jungen Mitarbeiter der ostdeutschen Staatssicherheit sollten sich im Westen an alleinstehende Frauen ranmachen, die als Informantin interessant sein könnten. "Wendezeit" handelt nun gewissermaßen von einer "Julia": Mit Anfang zwanzig ist die junge Sozialistin Tatjana Leschke (Petra Schmidt-Schaller) im Auftrag der Stasi in die Identität der gleichaltrigen Saskia geschlüpft, die 1971 vom Westen in die DDR übergesiedelt ist. In dieser Rolle hat sie in Westberlin Amerikanistik studiert, einen Deutschamerikaner geheiratet und Kinder bekommen. Offiziell arbeitet sie im Herbst 1989 in der Amerikanischen Botschaft; inoffiziell für die CIA.

Zunächst schildert Autorin Silke Steiner, die bislang vorwiegend Drehbücher für heiteren Zeitvertreib geschrieben hat ("Opa wird Papa"), das Leben einer Doppelagentin. Nach außen ist Saskia eine ganz normale Mutter, die regelmäßig Ärger mit ihrer pubertierenden Tochter bekommt. Als eine Botschaftskollegin ihr von einem Ostberliner Überläufer erzählt, der als Mitgift die Tarnidentität einer Spionin mitbringt, macht sie den Mann unschädlich. Zwischendurch blendet Regisseur Sven Bohse immer wieder in die Vergangenheit zurück, um Tatjanas besonderes Verhältnis zu Markus Wolf (Robert Hunger-Bühler) zu beschreiben. Der Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) ist eine Art Ersatzvater; ihr leiblicher Vater (André M. Hennicke) hat sie schon früh auch mit drastischen Mitteln auf ihre Agentenlaufbahn vorbereitet.

Das ist alles interessant und handwerklich auf hohem Niveau, schließlich zählt Bohse nicht zuletzt dank seiner Mehrteiler "Ku’damm 56" und "Ku’damm 59" zu den interessantesten deutschen Fernsehregisseuren. Richtig spannend wird "Wendezeit" jedoch erst, als die Handlung ihrem Titel gerecht wird und die Geschichte etwa zur Hälfte des Films quasi von vorn beginnt: Mit ungläubigem Staunen verfolgt Saskia, wie ihre Landsleute auf die Straße gehen und die Stasi-Zentrale stürmen. Dort lagert natürlich auch eine Akte mit den Klarnamen der Westagenten. Die Agentin könnte sich nach Russland absetzen, will aber ihre Familie nicht zurücklassen; Ehemann Richard (Harald Schrott) hat keine Ahnung von ihrem Doppelleben. Als die Stasi-Unterlagen nach Moskau transportiert werden sollen, sieht sie ihre Chance gekommen, und nun entwickelt sich der Film zu einem Spionagethriller á la John le Carré: Saskia fädelt einen riskanten Coup ein, bei dem sie beide Seiten an der Nase rumführen muss.

Wahrt "Wendezeit" zunächst eine gewisse Distanz zu seiner Hauptfigur, so wird die Spionin spätestens jetzt zur Identifikationsfigur, was Bohse weidlich ausnutzt, um das Publikum mitfiebern zu lassen. Die fabelhafte elektronische Musik von Fabian Römer ist der perfekte Spannungsverstärker, aber die Last des Films ruht natürlich auf den Schultern der Hauptdarstellerin. Petra Schmidt-Schaller verkörpert die Frau nicht nur mühelos über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren, sie verleiht der Figur zudem einen enormen Facettenreichtum, und das nicht nur wegen der verschiedenen Verkleidungen, in die sie schlüpft. Auch charakterlich bedient die Schauspielerin ein breites Spektrum, sodass stets offen bleibt, welche ihrer Rollen die wahre ist. Hat sie tatsächlich Verständnis für ihre Landsleute, die in Leipzig für Freiheit und Demokratie auf die Straße gehen? Oder ist das alles nur Fassade, weil die in ihrer Jugend erfahrene Indoktrination letztlich stärker ist?

Trotzdem gelingt es Schmidt-Schaller, Sympathie für Saskia zu wecken, obwohl sie über weite Strecken des Films keine Miene verzieht. Als sie zu Beginn den verräterischen Kollegen (Marc Hosemann) erschießt, gelten noch mildernde Umstände, weil sie in Notwehr handelt. Als sich ihre Tochter jedoch kurz vor dem Mauerfall in einen Ostberliner Punk verliebt, verpasst sie dem Jungen eine Abreibung, damit er die Finger von Hannah (Lilly Barshy) lässt. Endgültig sehenswert wird "Wendezeit" durch das bis heute ungelöste Rätsel um den verschwundenen Teil der "Rosenholz"-Akten. Der Name bezieht sich auf eine gleichnamige Aktion des Verfassungsschutzes, der 1993 bei der CIA Einsicht in jene Karteikarten nehmen durfte, auf denen die HVA die Namen ihrer Agenten notiert hatte. Bohse hat die Nacht-und-Nebel-Aktion, in deren Verlauf CIA-Mitarbeiter die Unterlagen kopieren, äußerst packend inszeniert. Das gilt erst recht für Saskias verzweifelten Versuch, jeden Hinweis auf ihre Identität zu löschen.

Neben der Spannung dieser auch filmisch sehr eindrucksvollen Szenen lebt "Wendezeit" nicht zuletzt vom existenziellen Kampf einer Frau, der es längst nicht mehr um Politik geht, sondern nur noch um ihr privates Glück. Es gelingt Saskia zwar, einen Deal mit einem Stasi-Oberst (Alexander Beyer) einzufädeln, aber ihr Chef (Ulrich Thomsen) ist längst misstrauisch geworden; und zu allem Überfluss interessiert sich plötzlich Ehemann Richard für ihre Vergangenheit. Schauspielerisch ist "Wendezeit" ohnehin ganz vorzüglich, und die Kombination von Spielszenen mit Originalaufnahmen während der großen Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz ist verblüffend.