Regisseur Nikolaus Leytner orientiert sich allerdings viel zu sehr an der typischen Ästhetik solcher Filme und geht außerdem allzu didaktisch vor: Die Handlung beginnt mit einem Kinobesuch der beiden Freundinnen Betty und Paula; an der Kasse zeigt die Kamera in Großaufnahme das Schild "Juden Zutritt verboten". Kurz drauf, als die beiden im Saal sitzen, geht für einen Moment die Tür auf. In dem durch den Türrahmen begrenzten Bildausschnitt ist eine Hakenkreuzfahne zu sehen. Eine Gleichaltrige hat die Mädchen verpetzt, sie werden aus dem Kino geworfen. Daheim schimpft Bettys Großmutter: "Wie kann man nur so blöd sein!" und "Wir sind nicht mehr wie alle anderen." Leytner nimmt sein Publikum also schon mit den ersten Szenen an die Hand, was ebenso ungewöhnlich für ihn ist wie die ostentative Bildsprache seines Stammkameramanns Hermann Dunzendorfer. Doch obwohl in diesem Film ständig alles erklärt wird, als richte er sich an ein jugendliches Publikum, bleiben dauernd Fragen offen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Österreicher Leytner hat hierzulande vor allem durch verschiedene Dramen mit Christiane Hörbiger auf sich aufmerksam gemacht, allen voran "Der Besuch der alten Dame" (2008). Für das Krimidrama "Ein halbes Leben" ist er mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet worden; außerordentlich berührend war auch sein Alzheimer-Werk "Die Auslöschung". Gerade in diesen beiden Arbeiten hat Leytner eine ungewöhnlich große Nähe zu seinen allerdings auch von herausragenden Schauspielern wie Matthias Habich und Klaus Maria Brandauer verkörperten Hauptfiguren hergestellt. Mit "Die Kinder der Villa Emma" gelingt ihm das nicht, und das ist vielleicht die größte Schwäche des Films. Zentrale Figur ist die anfangs 14jährige Betty. Ihre Darstellerin Sophie Stockinger hat auch schon in Leytners letztem Film mitgewirkt, "Die Stille danach" (2016), einem Drama über eine Mutter, deren Sohn aus scheinbar heiterem Himmel an seiner Schule ein Blutbad angerichtet hat; Stockinger spielte die Schwester des Jungen. Schon dort ist es Leytner nicht gelungen, die größtmögliche Identifikation mit seiner wichtigsten Figur herzustellen. Diesmal macht sich das Defizit noch stärker bemerkbar, weil Betty keinerlei Tiefe bekommt; kennzeichnendes Merkmal neben dem Judentum, auf das sie selbst allerdings keinerlei Wert legt, ist allein ihre Liebe zum Kino und ihre Schwärmerei für O.W. Fischer. Erschwerend kommt hinzu, dass Muriel Wimmer, Darstellerin des Flüchtlingsmädchens Tilla, das sich im Verlauf der Reise mit Betty anfreundet, auch dank ihrer markanten Gesichtszüge ungleich prägnanter wirkt. An der Oberflächlichkeit ändern selbst die Off-Kommentare nichts, für die der Film einen nur halbwegs überzeugenden Vorwand gefunden hat: Betty schreibt regelmäßig an ihre Wiener Freundin Paula; die Briefe, die sie aus dem Off vorliest, dienen als Erläuterung der Handlung ("Wir sind jetzt in Slowenien"). Wie es Paula gelingt, zu antworten, obwohl die Gruppe auf der Flucht ist und nur illegal Unterschlupf findet, bleibt ein Rätsel.
Die weiteren Jugendlichen wie auch die erwachsenen Nebenfiguren werden auf die Funktion von Stichwortgebern reduziert. Der Reiseleiter (August Zirner) wird beim ersten längeren Aufenthalt in Zagreb erschossen. Sein Nachfolger (Ludwig Trepte) zeichnet sich allein durch die lautstarken Streitgespräche aus, die er mit dem Lebenskünstler Schoky (Laurence Rupp) führt, und mit der einzigen erwachsenen Frau (Nina Proll) kann das Drehbuch überhaupt nichts anfangen. Es stammt von Agnes Pluch, die für Leytner auch schon "Die Auslöschung" sowie "Am Ende eines Sommers" geschrieben hat, ein Drama über einen jungen Mann, der rausfindet, dass er das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Gemessen an diesen ebenso bedrückenden wie eindrucksvollen Arbeiten ist es umso erstaunlicher, dass "Die Kinder der Villa Emma" so wenig emotionale Wirkung entfaltet. Das hat auch mit der Erzählweise zu tun. Weil sich die Gruppe immer wieder neu auf den Weg machen muss, war die Struktur der Handlung gewissermaßen vorgegeben, aber Pluch und Leytner haben den Film auch innerhalb der einzelnen Kapitel sehr episodisch konzipiert. Auf diese Weise ist ein merkwürdiges Phänomen entstanden: Die Inszenierung ist wie so viele TV-Produktionen über jene Jahre sehr klassisch, als lasse der Respekt vor der historischen Bedeutung nichts anderes als eine gediegene Umsetzung zu. Trotzdem wirkt das Drama mitunter atemlos, weil Ereignisse mit unterschiedlichen emotionalen Vorzeichen scheinbar willkürlich aneinandergereiht werden: Tilla kehrt tieftraurig von der ergebnislosen Suche nach ihrer Mutter in die Villa zurück, tanzt anschließend freudestrahlend mit Schoky und ist kurz drauf wieder am Boden zerstört, als der umtriebige junge Mann ihr klar macht, er sei nichts für sie. Wechselbäder dieser Art gibt es immer wieder.
Zum großen Werk fehlen dem Film auch die großen Bilder, alles mutet recht sparsam an. Eine Bahnhofsszene zu Beginn sieht aus, als sei sie in einer leerstehenden Fabrikhalle entstanden; der Zug, den die Kinder besteigen, besteht nur aus dem hinteren Ende des letzten Waggons. Andererseits liegt auch über den wenigen spielerischen Momenten – hier eine Kissenschlacht, dort eine "Reise nach Jerusalem" (!) – der für Produktionen dieser Art obligate Mehltau: als ob ein ungeschriebenes Gesetz es verbiete, in solchen Geschichten Momente unbeschwerter Heiterkeit zu inszenieren. Die einzigen Farbkleckse, auch das durchaus charakteristisch für Fernsehspiele dieser Art, sind die roten Hakenkreuzfahnen.