Sie haben Down-Syndrom, Epilepsie, sind Spastiker oder Autisten: Behinderte in Russland leiden noch stark unter Ausgrenzung. Für Minderjährige gibt es zwar Schulen und Heime - doch danach ist es für viele mit Arbeits- und Therapieangeboten vorbei. "Dann sitzen sie zu Hause und werden nur dümmer und dicker", kritisiert die lutherische Pröpstin Olga Temirbulatowa aus Samara diese Angebotslücke. Fast immer sind es die Mütter, die vollzeitlich die Pflege ihrer erwachsenen Kinder übernehmen - die Väter machen sich häufig aus dem Staub.
In Toljatti, der 700.000-Einwohner-Stadt an der Wolga, hat die kleine lutherische Gemeinde einen freundlichen, zweistöckigen Bau erworben. Das Haus im Hinterhof zwischen riesigen Wohnsilos diente früher als Bordell. Sonntags feiern hier nun zehn bis 15 Evangelische Gottesdienst, Dienstag bis Freitag kommen rund 15 behinderte Kinder und junge Erwachsene in die Einrichtung.
Soziales Engagement bringt Anerkennung
Pastorin Tatjana Schiwodjorowa ist ein Multitalent. Sie hat nicht nur eine theologische Ausbildung, sondern fungiert auch als Tanzlehrerin. Ihre Klienten fassen einander an den Händen, drehen sich im Kreis, klatschen in die Hände und haben sichtlich Spaß. Zum Malen und Kneten kommt eine Kunstlehrerin. Dienstags gehen alle zum therapeutischen Schwimmen ins Hallenbad.
Anfangs haben viele Bewohner um das Gemeindezentrum herum abweisend auf die Behindertengruppe reagiert. Eltern sorgten sich, die Behinderung könnte "ansteckend" für ihre Kinder sein, erinnert sich die Pastorin. Einmal habe man am Wochenende vergessen, die Haustüre abzuschließen - doch es sei nichts geklaut worden, selbst Diebe machten bislang um das Sozialprojekt einen Bogen. Inzwischen ist die Gruppe aber so häufig in der Öffentlichkeit zu erleben, dass sich die Menschen in diesem Teil Toljattis schon daran gewöhnt haben.
Die Protestanten sehen neben dem Beitrag zur Inklusion einen zweiten Vorteil: In der religiös von der russisch-orthodoxen Kirche geprägten Gesellschaft bringt das soziale Engagement Anerkennung. Obwohl die meisten Russen die Evangelischen für eine Art Sekte halten, erkennen sie hier doch mit Respekt eine Leistung für ein besseres Leben.
Die Angebote helfen nicht nur den Behinderten, sondern nicht minder deren Müttern. Sie kommen im Gemeindezentrum zusammen, können sich austauschen und gegenseitig unterstützen. Die Herausforderung, nonstop für das eigene Kind verfügbar zu sein, lässt sich auf diese Weise stundenweise unterbrechen. Die Kinder wiederum knüpfen Beziehungen und Freundschaften über die eigene Familie hinaus.
Ohne finanzielle Unterstützung aus Deutschland könnte das Projekt in Toljatti kaum überleben. Die Stadt beheimatet zwar Industrie und ist Hauptstandort eines großen Autoherstellers. Für eine qualifizierte Förderung Behinderter fehlt aber an vielen Stellen das Geld. Deshalb greift die Aktion "Hoffnung für Osteuropa", die vom Diakonischen Werk Württemberg koordiniert wird, den russischen Christen unter die Arme - in diesem Jahr mit 8.000 Euro.
"Hoffnung für Osteuropa" begeht in diesem Jahr seine 25. Kampagne. Im vergangenen Jahr unterstützte die Aktion diakonische Projekte in der Slowakei, Serbien, Rumänien, Russland und anderen Staaten mit insgesamt 266.000 Euro. Traditionell wird in württembergischen evangelischen Kirchengemeinden die Kollekte am gut besuchten Karfreitagsgottesdienst für diesen Zweck gegeben.