Im vergangenen Dezember hörte Gott auf, den Gläubigen Fallen zu stellen. In ihrer Predigt am ersten Advent sprach die Pfarrerin Agnes von Kirchbach das französische Vaterunser zum ersten Mal in geänderter Fassung. Eine Zeile des bekanntesten Gebets der Christenheit lautete von jenem Moment an anders, als sie und die Gläubigen der protestantischen Kirchengemeinde von Saint-Cloud westlich von Paris über Jahre, wenn nicht gar über Jahrzehnte, verinnerlicht hatten.
Seither betet von Kirchbach - wie wohl die meisten anderen französischen Pfarrer auch - nicht mehr "Unterwirf uns nicht der Versuchung" ("Ne nous soumets pas à la tentation"), sondern "Lass uns nicht in die Versuchung eintreten" ("Ne nous laisse pas entrer en tentation"). Statt zum Bösen zu verleiten, schützt Gott nun davor.
Heute, ein Vierteljahr später, erinnert von Kirchbach vor dem Gebet noch immer daran, wie die geänderte Zeile lautet. Die alten Fassungen in den Gesangsbüchern hat sie mit dem neuen Text überklebt. Und dennoch: "Diese eine Zeile wird uneinheitlich gebetet. Aber das ist kein Problem, die Leute lachen darüber."
Anderthalb Jahre Vorbereitung
Anderthalb Jahre lang hatte die Pastorin ihre Gemeinde auf die Umstellung eingestimmt. In ihren Gottesdiensten erklärte sie immer wieder, warum die Zeile geändert würde, warb für die neue Fassung - dabei klingt sie alles andere als euphorisch, wenn sie über die Neuübersetzung spricht. Sie sagt: "Sprachlich ist die neue Fassung nicht schlimmer als die alte."
Dass von Kirchbach sie dennoch befürwortet, geht auf eine Entscheidung der französischen Katholiken zurück. "2013 erschien eine Neuausgabe aller Bibeltexte, die für die katholische Messe eine Rolle spielen", erzählt sie - darunter die Evangelien des Matthäus und des Lukas, in denen das Vaterunser überliefert ist. "Nachdem die Kurie ihr Einverständnis gegeben hatte, stand fest, dass die französischsprachigen Katholiken es in ihren Gottesdiensten ab Dezember 2017 in geänderter Fassung beten würden."
Jüngere begrüßen neue Formulierung
Die Protestanten standen vor der Frage, ob sie es den Katholiken gleichtun würden. "Ungefähr zwei Prozent der Franzosen sind Protestanten. In jeder protestantischen Familie gibt es auch Katholiken", erklärt die Pastorin. Ihr lag das gemeinsame Gebet am Herzen. "In Frankreich wird das Vaterunser seit 1966 in einer ökumenischen Fassung gesprochen, daran wollten wir festhalten."
Mit "wir" meint sie die Vereinigte Protestantische Kirche Frankreichs. Deren Vertreter stimmten anhand eines Papiers, das von Kirchbach erarbeitet hatte, im Mai 2016 in Nancy dafür, die neue Fassung der Katholiken zu übernehmen. Der griechische Text lasse mehrere Übersetzungen zu, heißt es in einer Pressemitteilung. Dem Gedanken an die Ökumene komme jedoch besonderer Stellenwert zu.
Besonders die Jüngeren, die Gemeindemitglieder unter 40 Jahren, fänden die Neuformulierung besser, berichtet von Kirchbach. "Am schwierigsten ist es für die, die seit 20 Jahren nicht in der Kirche waren. Aber die, die regelmäßig in den Gottesdienst kommen, haben sich an die Änderung gewöhnt."
Ähnliches hat Markus Hirlinger erlebt. Vor gut einem guten Jahr wechselte der katholische Pfarrer vom Bodensee nach Paris. Wenn er samstagabends im 16. Arrondissement unweit des Eiffelturms predigt, kommen vor allem Franzosen: 30 bis 50 zumeist ältere Einheimische aus der Nachbarschaft, denen der Weg in eine französische Gemeinde zu weit ist. Die Predigt hält Hirlinger auf Französisch.
"Dass Gott in Versuchung führt, hat einfach nicht mehr zum Glauben gepasst"
"Im Dezember ist das Gebet noch etwas ins Stocken geraten", erinnert er sich. Dabei hatte er im Newsletter der Gemeinde auf die Änderung hingewiesen und in der Kirche zusätzlich Din-A5-Zettel mit dem Text verteilt. Seit Jahresbeginn sei es immer besser geworden, erzählt Hirlinger.
"Dass Gott in Versuchung führt, hat einfach nicht mehr zum Glauben gepasst", ist er überzeugt. In Frankreich habe es gegen die Änderung praktisch keine Widerstand gegeben - anders als in Deutschland, wo es ebenfalls eine Debatte über die Zeile gab, aber Protestanten wie Katholiken an der gängigen Fassung festhalten.
Umstellung noch lange nicht abgeschlossen
Aber nicht überall in Frankreich erleben die Pfarrer die Umstellung als unproblematisch. "Die Menschen sind an den alten Text gewöhnt", sagt der protestantische Pastor Herizo Rajakoba aus Toulouse. "Die Umstellung funktioniert nicht über Nacht", erzählt er.
Dabei hatte Rajakoba im Gemeindebrief frühzeitig auf die Umstellung hingewiesen, und die geänderte Passage spricht er im Gottesdienst vor dem Gebet noch einmal vor. Per Videoprojektion wirft er den neuen Text des Vaterunsers zusätzlich an die Kirchenwand. Und trotz alledem: Am Ende bete jeder, wie er will, berichtet er.
Das gilt allerdings auch für ihn. Im Gottesdienst wählt er mal die alte Fassung, mal die neue. Anders als bei den Katholiken sei das Votum der protestantischen Synode von Nancy nur eine Empfehlung, erklärt er. Es könnte also noch eine Weile dauern, bis die Franzosen das Vaterunser wieder mit einer Stimme beten.