Ein Feuerwehrauto, Baujahr 1975, tuckert im Schritttempo durch Rotensee, ein Plattenbauviertel in der Stadt Bergen in Mecklenburg-Vorpommern. Am Steuer sitzt Lydia Böttger, eine schlanke Frau in Jeans. Die 34-Jährige steuert das Auto zu einem Platz in der Mitte des Viertels. Rotensee ist eine Ansammlung von Häusern aus der DDR-Zeit, die ab der Jahrtausendwende saniert wurden. Knapp 3.000 Menschen leben hier.
Das Zentrum des Viertels bilden ein Billigladen für Kleidung, eine Bank und ein Lebensmittelgeschäft. Jeden Mittwoch von neun bis 12 Uhr findet hier ein christliches Straßencafé statt. Das Feuerwehrauto dient als Transportmittel für Wasserkocher und Pappbecher und als Ort für den Ausschank. "Es hat einen hohen Wiedererkennungswert", sagt Lydia Böttger. "Da wissen die Leute: Aha, das 'Nebenan'-Team kommt. Die Kinder lieben die Feuerwehr."
"Nebenan in der Platte" heißt das Projekt, für das Lydia Böttger tätig ist. Es wurde 2007 von der Evangelischen Kirchengemeinde Bergen auf Rügen gegründet, die dafür mit dem Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Uni Greifswald zusammenarbeitet. "Nebenan in der Platte" finanziert sich durch Spenden und versteht sich als Fresh X. Fresh Expression of Church ist eine Bewegung, die aus der anglikanischen Kirche kommt. Im Wesentlichen geht es darum, mit Menschen, die sonst mit der Kirche wenig zu tun haben, Wege zu Gott zu finden und sie im Alltag zu unterstützen. Das "Nebenan in der Platte"-Team versucht das unter anderem mit dem Straßencafé, einem Hauskreis und alle zwei Monate mit einem Gottesdienst.
Es ist kühl. Wenigstens regnet es nicht wie so oft im vergangenen Herbst. Die paar Menschen, die sich schon um das Feuerwehrauto versammelt haben, frösteln. Die meisten sind zwischen 40 und 80 Jahre alt. Einige Jugendliche schauen auch vorbei. Viele Menschen in Rotensee tragen Jogginghosen, einige haben schadhafte Zähne. Lydia Böttger kennt sie fast alle vom Sehen und viele sogar mit Namen. Sie schließt ein Stromkabel an, schaltet den Wasserkocher für Tee und Cappuccino ein. Filterkaffee hat sie schon zu Hause gekocht. "Wenn die Leute kommen, wollen sie gleich Kaffee trinken", sagt sie und stellt Stehtische neben dem Feuerwehrauto auf.
Bergen hat 13.500 Einwohner und liegt mitten auf der Insel Rügen. Die fischverarbeitende Industrie, Tourismus, Verkehr und Verwaltung sind wichtige Arbeitgeber. Vollzeitstellen sind knapp. Viele Menschen pendeln aufs Festland, nach Stralsund. Andere haben in der warmen Jahreszeit einen Teilzeitjob in einem der Ostsee-Badeorte. Die Einwohner von Rotensee leben zumeist in ärmlichen Verhältnissen. Trotzdem – wegziehen in eine Region, wo es mehr Stellen gibt, wollen sie nicht. Das kostet Mut, den sie nach mehreren Jahren mit Hartz IV nicht mehr aufbringen. Viele Menschen haben kaum Kontakte, die über ihre Familie hinausgehen. Andere leben allein. Lydia Böttger erzählt, dass manche Leute nur einmal in der Woche ein längeres Gespräch führen – beim Straßencafé: "Da bekommen sie mal Reibungsfläche. Menschen brauchen Gemeinschaft. Sie formt den Charakter."
Mit den Menschen leben, die man begleitet
Jetzt schüttelt sie Hände, gießt Wasser auf Cappuccino-Pulver und Kaffee in Tassen. Sie stammt aus Sachsen und hat in der Schweiz Theologie studiert. 2015 zog sie nach Rotensee. Dass sie eine Wohnung im Plattenbau nahm, war Voraussetzung dafür, dass sie den Job bekam. Das "Nebenan in der Platte"-Team will mit den Menschen leben, die es begleitet. Auch Böttgers Kollege Cornelius Bach, der seit 2010 dabei ist, wohnt mit seiner Ehefrau und den drei Kindern in der Platte. Er ist als Gemeindepädagoge in Teilzeit für die Evangelische Kirchengemeinde Bergen und ehrenamtlich für "Nebenan in der Platte" tätig. Außer ihm halten etliche Ehrenamtliche das Projekt am Laufen.
An einem der Stehtische trinkt eine 49-Jährige ihren Kaffee. Sie bewegt sich langsam, was nicht nur an ihrem Übergewicht liegt. "Wegen der kaputten Knochen" sei sie seit drei Jahren in Rente, sagt sie. In der DDR-Zeit absolvierte sie eine Lehre auf Rügen, aber der Betrieb wurde nach der Wende geschlossen. Danach jobbte sie mal hier, mal dort – bis die gesundheitlichen Probleme sich immer stärker bemerkbar machten. Trotzdem ist die Frau zufrieden, auch, weil sie mit ihrem Partner zusammenlebt. Sie ist eine der Wenigen in der Runde, die etwas mit Gott anzufangen wissen. "Wenn man in Not ist, hilft er einem", sagt sie, "wenn man an ihn glaubt. Das ist die Voraussetzung."
Ab und an geht die Frau zu dem Hauskreis. Heidi, eine lebhafte Frau mittleren Alters, gehört zu den Ehrenamtlichen, die ihn mit organisieren. "Wir lesen mit den älteren Herrschaften die Bibel", sagt Heidi. "Wir versuchen, Möglichkeiten zu finden, dass es für sie verständlich ist." Besonders bei den 40- bis 60-Jährigen macht sich der Atheismus bemerkbar, der in der DDR gepredigt wurde. Unter den Älteren gibt es aber auch einige, die als Kinder getauft wurden und den Konfirmandenunterricht besucht haben. "Ich bin eingesegnet worden, aber ich glaube trotzdem nicht an Gott!", sagt ein 81-jähriger Mann, der früher als Kraftfahrer tätig war. Schon in der DDR-Zeit sei er aus der Kirche ausgetreten, auch um Kirchensteuer zu sparen. "Ich glaube nur das, was ich sehe", sagt er.
Als Christin ist Lydia Böttger so etwas wie eine Exotin. Die Menschen hätten aufgrund ihrer Jahre in der DDR Vorurteile gegenüber der Kirche, sagt sie verständnisvoll: "Der Glaube ist in vielen Familien ein Tabu. Wenn Leute sich dafür interessieren, gucken ihre Verwandten sie komisch an. Wir sind wohl die Einzigen, mit denen sie reden können."
Gleichgültigkeit, Pessimismus, Alkohol
Miteinander reden, das ist wohl auch der einzige Weg, mit den vielen Problemen im Viertel fertig zu werden, der Gleichgültigkeit, dem Pessimismus, dem rauen Ton, dem Alkohol. Bis Veränderungen spürbar werden, ist es ein weiter Weg. Ein Glaubenskurs, den das "Nebenan"-Team eine Zeit lang organisierte, bietet es nicht mehr an, weil sich dafür kaum Interessenten meldeten. Doch es gibt sie, die kleinen Schritte, die Leute, die jetzt mehr aus sich herausgehen und freudvoller in die Zukunft blicken. Vor ein paar Wochen wandte sich eine Frau an Lydia Böttger, weil sie mehr über den Glauben wissen wollte. Zu dritt, mit einer Ehrenamtlichen, lesen sie jetzt regelmäßig in der Bibel. "Sie entdeckt zum Teil andere Dinge darin als wir", erzählt Lydia Böttger. "Viele Sätze nimmt sie wörtlich." Wenn Jesus sagt, "Folge mir nach!", dann denkt die Frau ans Hinterherlaufen im Wortsinn.
An den Tischen wird viel gescherzt, auch um der Kälte standzuhalten. Als Lydia Böttger nach drei Stunden das Feuerwehrauto belädt, wirkt sie müde, aber zufrieden. Das Auto fuhr übrigens lange durch Süddeutschland. Das "Nebenan"-Team konnte es dank der Unterstützung durch die christliche Johannes-Bugenhagen-Stiftung 2011 kaufen. Lydia Böttger stellt es vor ihrem Wohnhaus ab und trägt leere Kannen hinauf in ihre Wohnung. "Die Leute hier reden normalerweise nicht über Religiöses", sagt sie. "Wir wollen ihnen solche Gespräche auch nicht aufdrängen. Wir sind hier, um Beziehungen zu knüpfen. Das ist Nummer Eins. Alles andere kommt danach."