Am liebsten nimmt Martin Schulze sein Fahrrad gleich mit in die Kirche. Denn der Kantor weiß es gern behütet. Nicht ohne Grund. Sein Fahrrad ist sein Markenzeichen; eine Art Lebensbegleiter und wertvolles Gut, wie er verrät. Und seit wenigen Tagen ist es durch das Deutsche Patent- und Markenamt auch bestätigt: er ist der einzige in Deutschland, der sich "Fahrradkantor" nennen darf. Seine Konzertsaison dauert jeweils von Mai bis Ende September. In dieser Zeit legt der freiberufliche Kirchenmusiker etwa 15000 Kilometer deutschlandweit mit seinem Fahrrad zurück - von Kirche zu Kirche, von Orgelkonzert zu Orgelkonzert.
Und auch für das Gespräch mit evangelisch.de ist er auf sein Fahrrad gestiegen. Die Anfahrt: eine Strecke von "nur" 40 Kilometern, zwar bei Sonne, aber das Thermometer zeigt immerhin minus drei Grad an diesem winterlichen Vormittag im Februar. Nicht problematisch für Martin Schulze. Er fährt bei jedem Wetter, mitunter zwischen 200 und 400 Kilometer am Tag. "Wenn ich mal eine Woche nicht Rad fahren kann, werde ich hibbelig", beschreibt der 50-Jährige.
Und wenn er länger nicht Orgel spielt, mindestens ebenso. Fahrrad und Orgel, Orgel und Fahrrad – diese beiden Dinge gehören für ihn zusammen. Deshalb gibt er auch rasch eine musikalische Kostprobe auf der spätromantischen Gebrüder-Dinse-Orgel in der Dorfkirche des kleinen Ortes Gosen, unweit der östlichen Stadtgrenze zu Berlin. Es ist Johann Sebastian Bachs Praeludium in c-Moll. Ausdrucksvoll und mit einem besonderen Schwung, in gewisser Weise von Energie geladen, spielt er die Melodie. Wenige Minuten zuvor saß er noch auf seinem Fahrrad. "Die körperliche Spannung nehme ich bewusst mit und baue sie in mein Orgelspiel ein", erklärt er. Wenn man körperlich erst in eine Art Trägheit verfalle, drücke sich das im Klang der Melodie aus.
Zu seinen besonderen Fähigkeiten als Musiker, so schätzt er es selbst ein, gehört vor allem Flexibilität. In kürzester Zeit kann er sich auf neue Instrumente und Gegebenheiten einstellen. "Denn jede Orgel ist ein Unikat, die extra für eine bestimme Kirche gebaut wurde", erklärt er. Die Vielfältigkeit und die klanglichen Möglichkeiten, die sich damit verbinden, reizen ihn. Zur Vorbereitung auf seine Konzerte informiert er sich über die jeweilige Orgel. Aus welchem Baujahr und aus welcher Werkstatt stammt sie? Danach gestaltet er sein Programm. Denn Stücke, die in anderen Zeitepochen für ein anderes Klangprofil geschrieben wurden, klingen nicht.
Wenn Martin Schulze zum ersten Mal eine Kirche betritt, läuft er diese zunächst ab, schaut sich das Instrument von unten genau an, singt ein paar Töne, um ein Gefühl für den Nachhall zu bekommen. Anschließend steigt er die Treppe zur Empore hinauf und spielt sich warm. In der Dorfkirche in Gosen ist das jedoch nicht nötig. Die Orgel kennt er gut, denn in der Nähe - in Erkner - ist er aufgewachsen. Seine ersten musikalischen Gehversuche machte er hier und an der Orgel in der Kirche des Nachbarortes Neu-Zittau.
Als er 13 Jahre alt war, entdeckte er bei einem Ferienkurs für Schüler seine Leidenschaft für das Orgel spielen. "Dass innerhalb von Sekunden ein Instrument einen Kirchenraum klanglich so ausfüllen kann, hat mich umgehauen", erinnert er sich. Zwar war ihm Orgelmusik aus den Gottesdiensten bekannt, als Konzertinstrument allerdings kannte er es bis dahin nicht. "Ich war stolz, dass ich nach diesem Kurs zwei Choräle begleiten konnte", erzählt Martin Schulze.
Daraufhin sei er zu dem Pfarrer nach Neu-Zittau geradelt - schon damals war das Fahrrad für ihn wichtig - und habe gefragt, ob er ehrenamtlich Orgel spielen dürfe. Er durfte und war fortan von dem Instrument nicht mehr weg zu bekommen. Mit viel Ehrgeiz übte er jeden Tag und hatte ein klares Ziel vor Augen: Kantor werden. Nicht ganz einfach. Weil er "nur" konfirmiert war, durfte er zu DDR-Zeiten zunächst kein Abitur machen, wie er erzählt.
Freiheit spielt eine große Rolle in seinem Leben
Außerdem sollte er zu einer vormilitärischen Ausbildung - da war er ungefähr 17 Jahre alt. Martin Schulze sagte den Verantwortlichen darauf einen Satz, der sein Leben änderte: "Was ist das für ein Scheiß-Staat, in dem ich gezwungen werde, mit einer Waffe Menschen umzubringen." Daraufhin sei er ein Jahr im Gefängnis gelandet. Eine Zeit, die ihn bis heute prägt, wie deutlich zu spüren ist. Wenn er darüber erzählt, senkt Martin Schulze den Kopf, verzieht die Mundwinkel, als ob er etwas Saures gegessen habe. "Die Hoffnung des Staates, aus mir einen vernünftigen Menschen zu machen, hat sich nicht erfüllt", sagt er und lacht bitter. "Aber ich bin vorsichtiger geworden." Und was für ihn trotz alledem immer feststand: er wollte in der DDR bleiben. Es habe Menschen gebraucht, die hier die Probleme lösten und die sich der Situation stellten.
Seit dieser Erfahrung spielt vor allem das Thema "Freiheit" in seinem Leben eine übergeordnete Rolle. Und dabei hat auch das Fahrrad eine wesentliche Bedeutung. "Denn beim Radfahren fühle ich mich frei", sagt er. Immer draußen an der frischen Luft. Er staune oft selbst, wie viel der eigene Körper leisten könne. Dass er zähe ist und einen langen Atem hat, wird auch daran deutlich, dass er es später doch noch schaffte, Kirchenmusik zu studieren. Mit Hilfe von Menschen, die an ihn glaubten und ihn unterstützten.
Sein christlicher Glaube ist in dieser Zeit stark gewachsen. "Ich spüre, dass ich dadurch Halt habe und beschützt bin", erklärt der Fahrradkantor. Vor allem auf der Straße. Denn bisweilen habe er schon einige Stürze erlebt, bislang ohne schwere Verletzungen, mit vielen Schutzengeln, wie er sagt. Nach seinem Studium in Greifswald arbeitete Martin Schulze zuerst als Kantor; fest angestellt in verschiedenen Kirchengemeinden. Sein Weg führte ihn nach Friedland in Mecklenburg-Vorpommern, nach Himmelpforten und nach Otterndorf in Niedersachsen. Schon damals spielte er gern Gastkonzerte und bemerkte, dass die klassische Arbeit als Kantor in einer Kirchengemeinde nicht sein Ding war.
Er wollte hauptsächlich Orgel spielen, sich künstlerisch ausleben und frei sein. Deshalb entschied er sich 2011 für den freiberuflichen Weg als sogenannter Fahrradkantor. Für seine Konzerte bekommt er entweder Honorar oder Kollekte von den Kirchengemeinden. Schlafsack und Isomatte hat er immer dabei. "Es findet sich meist ein Plätzchen für mich, entweder in einem Gemeindesaal oder bei Gastfamilien", erzählt er. Manchmal sei er fünf bis sechs Wochen am Stück unterwegs. Zwischendurch ziehe es ihn aber immer wieder nach Hause. Martin Schulze lebt mittlerweile mit seiner Frau und zwei Kindern in Frankfurt an der Oder.
Und so hat er sich in den letzten Jahren einen Namen erspielt; auch durch Auftritte in den Medien. Seine Konzerte sind meist ausverkauft, er selbst für ist zwei Jahre ausgebucht. Im Moment plant er seine Konzertsaison für das Jahr 2020.
Vorwiegend ist er in Ostdeutschland unterwegs, war aber zum Beispiel auch schon in Celle oder im Ausland, etwa der Schweiz, den Niederlanden und Lettland. Eine Strecke von circa neun Mal um den Äquator ist Martin Schulze bisher in seinem Leben mit dem Rad gefahren. Und solange es die Gesundheit zulässt, sollen es noch etliche weitere Kilometer werden. Er wirkt mit sich im Reinen: "Wenn ich nochmal entscheiden könnte, würde ich es wieder so machen."