Es gibt ein Märchen, das jedes Kind in Grönland kennt und das die Menschen seit ungezählten Jahren weitertragen. Es ist die Geschichte von Kaassassuk: Die Dorfbewohner verspotten den kleinen Waisenjungen als Schwächling, quälen und verstoßen ihn. Er lebt allein und schläft bei den Hunden – bis er in der Wildnis auf einen Zauberer trifft, der ihm übernatürliche Kräfte verleiht. Am Ende ist Kaassassuk ein unbesiegbarer Jäger, der drei Eisbären bezwingt.
"In jedem meiner Kinder steckt ein kleiner Kaassassuk", sagt Ann Andreasen und sie ist die Zauberin, die sie stark machen will: eine kleine Frau, 57 Jahre alt, mit dunklem Lachen und weichem Blick. Mitten in der arktischen Einöde, wo sich die Kälte bei minus dreißig Grad durch die Kleidung frisst, leitet sie das nördlichste Kinderheim der Welt, eine Festung aus Geborgenheit für 35 Mädchen und Jungen im Alter von sechs bis zwanzig. "Weil sie Unvorstellbares erlebt haben, haben sie es auf Uummannaq verdient, endlich glücklich zu sein."
Dort, wo sich die Straße vom Herzberg nach unten schlängelt, sausen an einem kalten Nachmittag zwei kreischende Kinder mit ihren Schlitten hinab, vorbei am roten Schulhaus und dem einzigen Supermarkt, hinunter zum Hafen mit der großen Fischfabrik. In der Dämmerung ziehen Dharma und Amy mit glühenden Wangen und glänzenden Augen mit ihren Schlitten nach Hause zurück, hoch zu dem holzvertäfelten blauen Haus, wo Robbenhäute, bemalt mit Inuitkindern, neben die Tür gespannt sind und hinter den Fenstern Kerzen leuchten.
Amy ist eine leise Siebenjährige, mit Hasenzähnchen und seidigem Haar, der gleichaltrige Dharma ist ein aufgeweckter, oft überdrehter kleiner Junge. Zärtlich nimmt Ann ihre beiden Jüngsten zur Begrüßung in die Arme. Aus den Zimmern der anderen Kinder dringen Klaviermusik und Gitarrenklänge. Es duftet nach warmen Zimtbrötchen. Hyggelig, sagen die Dänen. Kein Wort passt besser zu dem gemütlichen Reich, das Ann geschaffen hat. Überall liegen flauschige Teppiche und Felldecken, Walrossschädel und Schnitzfiguren aus Knochen, Tupilak, stehen auf den Regalen. Die Seelen ihrer Ahnen leben in ihnen, so will es der Aberglaube. An den bunten Wänden hängen Fotos von Konzertreisen der Kinder. Sie zeigen sie mit Blumenketten am Strand von Hawaii, mit ihren Musikinstrumenten in Venezuela, mit Daisy Duck in Disneyland Paris. Ann will ihre Welt größer machen. Doch vor allem sollen sie lernen, ihr eigenes ungezähmtes Land zu lieben. Und damit sich selbst. "Den Kindern zu zeigen, dass sie einer wunderschönen Kultur entstammen, hilft ihnen, zu verstehen, wie wunderschön und wertvoll sie sind." Es hilft ihnen, zu überleben.
Wer die Kinder und das Heim verstehen will, muss die Vergangenheit Grönlands kennen. "Lange folgten die Inuit den Spuren ihrer Vorfahren, aber die Spuren verschwinden", erzählt Ann. Um ihren Hals trägt sie einen Eisbär, geschnitzt aus dem Knochen eines Narwals. Sie sitzt sie in ihrem kleinen Büro auf ihrem Stuhl, bespannt mit grauglänzendem Robbenfell.
Seit jeher sind die Grönländer Jäger, fangen Wale, Rentiere und Robben, angeln Dorsch und Heilbutt. Doch der Klimawandel lässt das Eis immer früher schmelzen und mit ihm schwinden die Traditionen, die Jagdgründe, die Hundeschlitten und damit Stolz und Identität. Ann malt einen Inuit in Fellkleidung auf ein Blatt Papier. Sie zeichnet ein weinendes Kind anstelle des Herzens und eine Scholle unter die Füße: "Meine Kinder stehen auf dünnem Eis. Unsere Aufgabe ist es, den Boden unter ihren Füßen dicker zu machen." Denn der unerbittliche Wandel trifft vor allem die Schwächsten. Das hat Ann in ihrer Zeit als Heimleiterin gelernt. Sie stammt von den Faröer Inseln, lebte in Israel, wo sie mit Überlebenden von Konzentrationslagern gearbeitet hat, zog mit Beduinen durch die Wüste von Sinai.
"Dann kam ich in die Eiswüste." Dreißig Jahre ist das her. In blauen Ordnern verwahrt Ann die Schicksale all der Jungen und Mädchen, die sie seitdem begleitet hat. Um sie zu schützen, will sie nicht darüber sprechen, was die Einzelnen erlebt haben. Doch jedes von ihnen trägt einen tiefen Schmerz in sich. Die meisten von ihnen haben sexuellen Missbrauch und Gewalt erfahren. Ihre Eltern sind Alkoholiker, überfordert mit der Erziehung, depressiv. Oder tot. Jedes der Kinder kennt mindestens einen Angehörigen oder Freund, der sich umgebracht hat. "Selbstmord ist in Grönland wie eine Epidemie." Sie überträgt sich von den Erwachsenen auf ihre Kinder. Und vor allem junge Menschen sind gefährdet. Davon erzählen die Strangulationsspuren an den Hälsen einiger Jugendlicher. Ann weiß, dass sie nicht alle Kinder retten kann: "Aber zumindest eine Kindheit kann ich ihnen schenken."
Im großen Esszimmer tischt Sozialpädagogin Rebekka, eine schmale, sanftmütige Grönländerin, das Abendessen auf: In der Fischsuppe schwimmt gewürfelte, schwarz glänzende Walhaut. Die Kinder halten sich an den Händen, sie beten für ihr tägliches Fleisch. Solche festen Rituale sollen ihnen eine Sicherheit geben, die sie aus ihrem früheren Leben nicht kennen. Kaum sind die Teller abgeräumt, holen sie ihre Instrumente. Musik, davon ist Ann überzeug, ist wie eine Medizin.
Dann sind Amy und Dharma an der Reihe. Mit baumelnden Beinen sitzen sie auf ihren Stühlen, alle Augen sind auf sie gerichtet. Dharma pustet in seine kleine rote Plastikflöte, doch er schafft es nicht, ihr die richtigen Töne zu entlocken. Er schmeißt die Flöte auf den Boden und sieht aus, als würde er entweder gleich in Tränen ausbrechen oder vor Wut schreien. Doch Ann nimmt ihn auf den Schoß und flüstert ihm etwas ins Ohr. Dharmas Augen leuchten. Er setzt die Flöte wieder an, nun an seine kleine Stupsnase – und spielt eine Melodie. Ann lächelt zufrieden. Unter die Musik mischt sich das leise Jaulen der Hunde aus der Dunkelheit.
Anns zweites Zaubermittel gegen den Schmerz ist die Natur. Deshalb steht Knud am nächsten Morgen im Flur und schlüpft in eine Hose aus flauschigem Eisbärenfell. Die anderen Kinder sind bereits in der Schule. Nur Amy und Dharma toben durch den Frühstückssaal und beobachten ihn. Für die beiden ist Knud wie ein großer Bruder, ein Vorbild. Obwohl der schlanke Teenager mit fast 18 Jahren zu den ältesten gehört, ermahnt Ann ihn, sich warm anzuziehen. Er grinst nur, mit tiefen Grübchen in den Wangen, und hüllt sich in das silbrig-graue Fell einer Ringelrobbe.
Auf dem Eis erwarten ihn die Polarhunde, gierig schnappen sie nach dem trockenen Walfleisch, das Knud vor sie auf den Boden wirft. Er macht sich auf den Weg zu Unnartoq, dem Mann "der das Feuer in sich trägt". Für die Kinder heißt er nur Großvater. Zwei Hundeschlittenstunden durch die Eiswüste dauert die Fahrt zu ihm. Seit 25 Jahren arbeitet der alte Jäger für das Kinderheim. Er kann sie lesen, die Spuren der Narwale und Moschusochsen. Er hat Knud beigebracht, die Hunde zu zähmen. Sie haben gemeinsam Knuds erste Robbe gefangen, die rohe Leber geteilt.
Ann glaubt an den Spruch, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen. Darum hat sie ein Team von fünfzig Menschen um sich geschart. Pädagogen, Musik- und Tanzlehrer – und Männer wie Unnartoq. Denn nur sie können das Wissen über die Natur zurückgeben, das seit Generationen abhandenkommt. "Die Natur kontrolliert uns und wir kontrollieren die Natur", sagt Unnartoq. "Das Jagen ist kein Festhalten an der Vergangenheit. Es ist unsere Seele, unser Blut." Sein altes Handy klingelt. Ann ist am Apparat und fragt, ob Knud gut angekommen ist. Der rollt nur betont genervt mit den Augen. Immerhin ist er doch fast erwachsen. "Vielleicht gehe ich bald nach Dänemark zum Studieren", sagt Knud. "Oder ich werde Automechaniker." Dass Ann auch dann weiter über ihn wachen wird, das weiß er ohnehin. Er würde es nicht zugeben, doch er ist froh darüber. "Und irgendwann werde ich wieder zu meinen Hunden kommen."
Es gibt ein Lied, das die Kinder oft gemeinsam singen: Wer einmal in Uummannaq war, der kehrt immer wieder dorthin zurück, weil er irgendwo auf der kleinen Felsinsel sein Herz verloren hat.