Am Ende waren die Schmerzen kaum noch zu ertragen. Ein Leben lang hatte Marlies B. mit einer Stoffwechselerkrankung zu kämpfen. Anfang des vergangenen Jahres konnte sie kaum noch etwas essen und nur noch wenig bei sich behalten. Als sie im Mai dann nicht einmal 40 Kilo wog, mündeten lange Überlegungen in den Entschluss zum Sterbefasten: Die 74-Jährige hörte auf zu essen und zu trinken.
"Sie sagte, sie sei lebenssatt", erinnert sich ihr Bruder Peter Auer an die Zeit im Frühjahr. "Und meine Schwester war letztlich schon lange eine sterbenskranke Frau", ergänzt der 69-Jährige, der in Hamburg lebt. Ab dem 9. Mai 2017 nahm sie nichts mehr zu sich. Zuvor hatte sie die Situation selbst akribisch vorbereitet: einen Arzt konsultiert, einen Pflegedienst ausgesucht, ein Palliativzentrum eingeschaltet, um die Versorgung mit schmerzstillenden Morphin-Medikamenten sicherzustellen. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht - alles lag vor.
"Zur Menschenwürde gehört es auch, selbst zu entscheiden, wann ich aufhöre zu essen und zu trinken"
Mit dem Sterbefasten befassen sich mehr Menschen als vielfach angenommen. Eine Online-Petition der Schauspielerin Barbara Rütting "Ja zum begleiteten Sterbefasten" unterzeichneten bisher knapp 42.000 Unterstützer. Und eine in der "Zeitschrift für Palliativmedizin" 2015 veröffentlichte Umfrage des Göttinger Professors und Ethikexperten Alfred Simon und seiner Mitarbeiterin Nina Luisa Hoekstra dokumentierte: Fast zwei Drittel der Hausärzte und Palliativmediziner, die an der Befragung teilnahmen, hatten in den vorangegangenen fünf Jahren mindestens einen Patienten beim Sterbefasten begleitet.
Damals wurden 714 Fragebögen verschickt, 255 kamen ausgefüllt zurück. Insgesamt fanden der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit und die ärztliche Begleitung große Zustimmung. Die meisten Mediziner befürworteten das Sterbefasten als letzte Möglichkeit für unheilbar und schwer erkrankte Menschen, um ein schicksalartiges Leiden zu beenden, das unerträglich war, etwa bei Krebs.
"Natürlich muss über das Sterbefasten diskutiert werden", räumt die evangelische Theologin Andrea Peschke ein. "Aber zur Menschenwürde gehört es auch, selbst zu entscheiden, wann ich aufhöre zu essen und zu trinken." Immer vorausgesetzt, die Entscheidung falle autonom und bei klarem Verstand, ergänzt die Beauftragte der hannoverschen Landeskirche für Hospiz- und Palliativarbeit.
Sterben - eine Beziehungsfrage
Peter Auer sagt, für seine Schwester sei es kein moralisches Thema gewesen, "sondern vor allem eine Beziehungsfrage". Deshalb sprach sie ausführlich mit ihm und ihren drei Töchtern. Die engsten Angehörigen begleiteten sie auch während des Sterbefastens - beispielsweise bei der immens wichtigen Mundpflege, die gegen Durstgefühl und Infektionen hilft. Es seien intensive Tage gewesen. "Das schweißt zusammen", denkt Auer zurück. "Es waren alle da, die ihr nahe standen und haben sich von ihr verabschiedet. Das war ihr wichtig."
Was die ärztliche Begleitung angeht, so sieht der Palliativmediziner Lukas Radbruch kein ethisches Problem. "Wenn Patienten für sich beschlossen haben, nicht mehr essen und trinken zu wollen, dann sollten wir das als Behandler beachten und respektieren", sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. "Ich kann sicher im Gespräch Alternativen anbieten und mich bemühen, mehr über die Hintergründe des Entschlusses zu erfahren. Aber Ausübung von Druck oder sogar Zwang mit dem Ziel, dass der Patient doch wieder zu essen und trinken anfängt, wäre sicher nicht gerechtfertigt."
Für Radbruch und auch für Simon ist dabei allerdings wichtig, dass sich der Arzt zuvor davon überzeugt, dass der Sterbewunsch wohlüberlegt ist. Dabei sollten alle wichtigen Informationen bekannt sein und die Entscheidung dürfe nicht auf sozialem Druck oder einer psychischen Erkrankung beruhen.
Trotzdem ist das Sterbefasten unter Ärzten umstritten. Einige sehen darin Hilfe zur Selbsttötung, so etwa der Münchner Mediziner und Medizinethiker Ralf Jox. Er argumentiert in einem Beitrag für die englische Fachzeitschrift BMC Medicine, ohne ärztliche Hilfe könnten viele Patienten ihren Wunsch zu fasten, bis der Tod eintritt, nicht realisieren.
Radbruch hält dagegen: "Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist ja nicht unbedingt auf pflegerische oder ärztliche Begleitung angewiesen, eine gute Mundpflege können auch die Angehörigen machen." Wenn aber eine Begleitung durch ein Palliativteam gewünscht werde, könne er das gerne anbieten: "Genauso wie ich auch jeden Patienten, der lebenserhaltende oder lebensverlängernde Therapien beenden will, begleiten kann."
Und der Göttinger Ethikexperte Simon sagt, die ärztliche Betreuung beim Sterbefasten beschränke sich auf menschliche Zuwendung und das Lindern von Schmerzen, Atemnot und Mundtrockenheit. Hilfe beim Sterben also, nicht Hilfe zum Sterben.
Sterbefasten - friedlich oder qualvoll?
Zu dieser Basisversorgung sei jeder Arzt gemäß den Grundsätzen der Bundesärztekammer sogar verpflichtet, meint Simon. Er hat allerdings Verständnis dafür, dass einige Ärzte das anders sehen. Wer moralische Bedenken gegenüber dem Sterbefasten habe, solle einen Kollegen bitten, die Begleitung zu übernehmen, rät der Medizinethiker.
Umstritten ist auch, wie das Sterbefasten verläuft - relativ leicht erträglich oder schwer. Wie schnell der Tod eintritt, hängt am Ende vom individuellen Gesundheitszustand ab und auch davon, wie radikal auf Flüssigkeit verzichtet wird, also ob die Aufnahme abrupt oder erst nach und nach auf nahezu Null reduziert wird. Nach einer Untersuchung aus den Niederlanden unter 97 Sterbefastenden starb die Mehrheit (70 Prozent) innerhalb von 16 Tagen.
Simon ist überzeugt, dass der Tod durch Sterbefasten nicht qualvoll ist. Die meisten Augenzeugen würden ihn als überwiegend friedlich beschreiben. Er komme dem Bild eines natürlich Sterbenden sehr nahe. Das deckt sich mit dem, was Peter Auer über seine Schwester berichtet. "Sie war froh, dass sie jetzt sterben durfte. Ich hatte den Eindruck: Sie zerfällt." Nach sieben Tagen war Marlies B. tot.