Der Report "Mission Shaped Church" kam einem Erdbeben gleich. Als er im Jahr 2004 erschien, veränderte er die anglikanische Kirchenlandschaft grundlegend. Der folgenschwerste Satz fand sich auf Seite 134: "Die Kirche von England sollte einen Schwerpunkt darauf legen, Leiter für pionierhafte missionarische Projekte zu erkennen und auszubilden." Was dann geschah, nannte der damalige Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, einen Paradigmenwechsel.
Die Folge: immer mehr pionierhafte Initiativen entstanden; etwa 2000 soll es mittlerweile geben. "Fresh Expressions of Church" werden sie manchmal genannt. Das sind Formen von Kirche, die in einer veränderten Kultur ihre Gestalt annehmen, vorwiegend für Menschen, die noch keine Mitglieder der Kirche sind oder sich von der traditionellen Kirche abgewandt haben. Gleichzeitig geht es nicht darum, die klassische Ortsgemeinde abzuschaffen. Vielmehr sollen Pionierhaftes und Altbewährtes gleichwertig nebeneinander stehen. "Mixed Econonmy" nennen das die Anglikaner.
Geleitet werden die meisten dieser Pionierprojekte übrigens von Ehrenamtlichen: genau genommen machen sie 36 Prozent der Leiter aus, so der Report "The Day of Small Things". In etwa 100 Fällen werden die Projekte aber auch von sogenannten "ordinierten Pionieren" geleitet – sie sind Pfarrer ohne Kirchengebäude, manchmal sogar ohne Gemeinde. Wie sie Kirche leben, bauen und leiten, das zeigt sich am besten, wenn man einige von ihnen kennenlernt.
Zuhören: Joanna Dobson, Widdrington Station
"Eigentlich dachte ich, ich würde etwas mit den vielen zugezogenen Familien machen." Es sollte anders kommen: Ein Anruf. Es war die Managerin eines Mittagstisches für Senioren, die Joanna vom mittwöchlichen Essen der "Bacon Butties" kannte. Es habe ein Todesfall in der Nachbarschaft gegeben. Der Witwer sei völlig aufgelöst beim Mittagstisch angekommen. Ob Joanna nicht mal nach ihm schauen könne – sie sei doch Pfarrerin. Ein Stupser des Heiligen Geistes, so deutet es Joanna. Sie folgte dem Hinweis und mittlerweile ist sie ganz für solche Menschen da: für die Verwitweten und Einsamen, die Alten und Kranken. "Wenn man einen Unterschied machen will, muss man sich konzentrieren", sagt die Pionierin fröhlich. Deshalb versucht sie es gar nicht erst, für alle in Widdrington Station da zu sein. Joanna hat gehört, zu wem sie gerufen ist.
Helfen: Susan Steer, Lubbesthorpe
Sie steht vor einer nagelneuen Haustür und greift nach dem nostalgisch wirkenden Türklopfer. Es ist eine von 75 Türen. Irgendwann wird es hier aber einmal 4250 Häuser geben, zusammen mit Schulen, Büros, Parks und Läden – eine neue Kleinstadt soll entstehen: Lubbesthorpe.
Nur langsam wird dieser Plan realisiert. Etwa 200 Siedler sind bisher angekommen. Susan Steer hat sie alle begrüßt. Und so klopft sie auch heute wieder, in der anderen Hand ein Willkommensgeschenk. Manche der Neuankömmlinge fangen schnell an zu erzählen: Sie haben Angst vor der Isolation, haben Bedenken, ob sie von den anderen Siedlern akzeptiert werden. Dann überlegt sich Susan, wie sie helfen kann. Denn das, einfach helfen, das tun, was benötigt wird, ist ein wichtiges Element der Pionierarbeit. Dienen, nennt Susan das.
"Meine Aufgabe ist es, Nachbarschaft zu ermöglichen. Vielleicht entsteht daraus einmal auch eine christliche Gemeinschaft, aber das ist nicht der Plan." Deshalb nennt sich Susan auch Sozialarbeiterin. Gleichzeitig ist sie ordinierte Pastorin, ihr Arbeitgeber ein ökumenischer Kirchenverbund. Für Susan ist beides, Sozialarbeiter- und Pastorensein, eng miteinander verbunden: "Denn Gott ist in sich Gemeinschaft und er stiftet menschliche Gemeinschaft." In Lubbesthorpe, wo von Kirche weit und breit nichts zu sehen ist, ereignet Kirche sich dennoch, ist die Pionierin überzeugt: in den Häusern der Menschen.
Kürzlich öffnete sich die Tür und eine junge Frau mit Neugeborenem machte auf. Sie erzählte, es sei eine schwere Geburt gewesen, sie könne kaum laufen, kenne aber auch noch keine Mütter mit Kleinkindern in Lubbesthorpe, fühle sich oft allein. Susan kochte ihr ein Mittagessen und stellte den Kontakt zu einer ebenso frisch gebackenen Mutter in der Nachbarschaft her. Jetzt wollen die beiden Frauen einen Eltern-Kind-Kreis anfangen. So bringt Susan die Menschen zusammen, organisiert Nachbarschaftstreffen, ein Lagerfeuer zu Halloween, und das in England traditionelle Carols-Singen. Sie gründete eine Gruppe von "Gemeinschaftsförderern", die langfristig die Aktionen selbst gestalten werden. Vier Bewohner engagieren sich bereits ehrenamtlich. Der Nachbarschaft Gutes zu tun, das scheinen die Menschen attraktiv zu finden.
Sammeln: Mark Broomhead, Chesterfield
Man versammelt sich nicht etwa in einer Kirche, sondern im Pub: rubinroter Teppichboden, dunkle Holzvertäfelungen, englisches Dark Ale vom Zapfhahn. Das Dekor zeugt von der alternativen Szene der Stadt Chesterfield, die sich sonst hier trifft: AC/DC grüßen von der Wand, Kiss als Plastikfiguren rocken auf den Tresen, und die Punker von den Sex Pistols dröhnen aus den Boxen.
Der tätowierte und bärtige Hausherr, Phil, hat den Orden eingeladen, hier ihre Gottesdienste zu feiern. Gekommen sind einige Studenten, Alternative, Künstler – ein bunter Mix. Sie vereint vor allem eines: viele haben schlechte Erfahrungen mit Kirche gemacht, wurden wegen ihrem Äußeren schräg angeschaut; im Orden werden sie so akzeptiert, wie sie sind: nämlich als schwarze Schafe der sonst ach so weißen Herde. Mark hat den Orden vor sechs Jahren gegründet. Unterstützt wird er von seiner Diözese, die ihn nach Chesterfield entsandte und ihm sein Gehalt bezahlt. Was klein begann, ist heute zu einer fest etablierten Gemeinde geworden.
An diesem Sonntag reden sie darüber, wie sich die Kirche oft an den Werten des Individualismus und des zügellosen Konsums orientiert, dass der christliche Glaube aber auch bedeutet, gegen diese Werte aufzubegehren. Weil sie voll und ganz Kirche und nicht nur ein Durchgangstor zur eigentlichen Kirche sein wollen, deshalb, so Mark, müssen auch die schwierigen Themen der Jesusnachfolge vorkommen. Das zeigt, wie der Orden reift und in die Tiefe wächst.
Kirche unter Druck
Gebet und Zuhören, Dienen und Helfen, und dann erst das Sammeln – so erklärte einmal eine Pionierin die Entwicklungsstufen ihrer Arbeit. Das zeigt: Pionierarbeit braucht Zeit; eine ekklesiale Gemeinschaft wird, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahren entstehen. Und eine Erfolgsgarantie kann und darf es nicht geben. Denn Ausprobieren, Scheitern und erneut Probieren ist zwingend Teil von pionierhaftem Handeln. Davon ist Markus Weimer überzeugt, der für seine Dissertation die kirchlichen Entwicklungen in England erforscht: "Mich fasziniert der Mut der Engländer, in neue Dinge zu investieren, mal was auszuprobieren, auch mit dem Wissen, dass vieles davon nicht zum Ziel führen wird. Dagegen nehme ich wahr, dass wir in Deutschland ängstlich reagieren: Wir klammern uns eher an die bestehenden Strukturen und die Kirchensteuer."
Diese beiden Wege kontrastierte kürzlich auch Justin Welby, Erzbischof von Canterbury: Eine Kirche die unter Druck gerät, habe zwei Optionen: sich an das Bestehende klammern, oder die verkrampften Hände für Gottes Wirken öffnen. Unter Druck gerät auch zunehmend die Evangelische Kirche in Deutschland – Stichwort: schwächelnde Mitgliederentwicklung, langfristige finanzielle Sorgen, Pfarrermangel. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage: Klammern wir oder öffnen wir uns? Joanna, Susan und Mark würden uns ermutigen, den kühneren der beiden Wege zu wählen.