Das ist durchaus heikel, denn die Repräsentantin der fiktiven Partei Die neuen Patrioten (DNP), mit der der eher links denkende Bundespolizist Falke (Wotan Wilke Möhring) immer wieder aneinandergerät, ist permanent auf Wahlkampf gepolt und sondert auch im Vier-Augen-Gespräch entsprechende Propaganda ab. Niki Stein nimmt in kauf, dass manch’ ein Zuschauer, dessen Verachtung für die "Systemmedien" den "Tatort" nicht mit einschließt, beifällig nicken wird: Wo sie Recht hat, hat sie Recht.
Aber Stein weiß natürlich, was er tut. Er befasst sich in seinen Drehbüchern immer wieder mit brisanten und aktuellen Themen. In "Manila", einem Kölner "Tatort" aus dem Jahr 1998, ging es um internationalen Kinderhandel; in dem unter anderem mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichneten Drama "Bis nichts mehr bleibt" um Scientology. Zuletzt hat er einen cleveren fiktionalen Dokumentarfilm über die wahren Gründe für den Untergang der DDR ("Öl") sowie einen auch filmisch faszinierenden "Tatort" aus Stuttgart über die Gefahren künstlicher Intelligenz ("Hal") gedreht. Weil Stein bei der Umsetzung seiner Stoffe kein Freund von Plakativität ist, hat er es auch vermieden, die unterkühlt auftretende Galionsfigur der deutschnationalen Partei zu karikieren: Nina Schramm (Anja Kling), Fraktionsvorsitzende der DNP im niedersächsischen Landtag, ist eine charismatische und hochintelligente Frau, die dem Neokonservatismus nicht nur aufgrund ihrer Erscheinung attraktive Züge verleiht.
Zum Krimi wird die Auseinandersetzung mit den Positionen der Rechtspopulisten, als der Gatte stirbt: Richard Schramm (Udo Schenk) kommt durch eine Autobombe ums Leben. Hätte sich nicht ein kurzfristiger Termin ergeben, hätte auch seine Frau in dem Wagen gesessen. Die Suche nach den Attentätern führt Falke und seine Kollegin Grosz (Franziska Weisz) naturgemäß ins linksradikale Lager. Schon ist die Rede davon, dass die politischen Erfolge der DNP eine Gemengelage entstehen lässt, die eine neue RAF hervorbringen könnte, da bekommen die Ermittler Zweifel an der Theorie: Was, wenn die Rechten das Attentat selbst inszeniert haben, weil Parteigründer Schramm lästig wurde und der Anschlag der Spitzenkandidatin bei der bevorstehenden Wahl einen weiteren Schub geben würde? Dass im Hintergrund auch noch Subventionsbetrug eine Rolle spielt, sorgt für eine weitere Komplexität des Drehbuchs.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Geschickt macht sich Stein zudem die unterschiedlichen Temperamente der beiden Ermittler zunutze, deren Mit- und Gegeneinander er gleichzeitig auf ein neues Niveau hebt: Während Falke offensiv die Auseinandersetzung mit Schramm sucht, ihre Parolen mit flott rausgehauenen Nazi-Vergleichen kontert und die Wähler der Rechten für "denkfaule Analphabeten mit Internetanschluss" hält, beißt sich Grosz förmlich auf die Zunge. Natürlich ist der Film auch als Warnung zu verstehen. Dass Stein dies nie in den Vordergrund stellt, macht einen nicht unbeträchtlichen Teil der Qualität aus.