Im Sommer 2010 verschwindet in einem Dorf am Niederrhein der zehnjährige Mirco. Die Polizei tut alles Menschenmögliche, um den Jungen zu finden. Ingo Thiel, Leiter der vielköpfigen "Soko Mirco", lässt auch dann nicht nach, als blutbefleckte Kleidung des Kindes entdeckt wird und kaum damit zu rechnen ist, dass es noch lebt. Es dauert fünf Monate, bis sich die Eltern endlich von Mirco verabschieden können.
Natürlich geht es auch darum, den Mörder aufzuspüren, aber der Film könnte ebenso gut "Das Versprechen" heißen: weil Thiel zu Beginn der Geschichte sein Wort gibt, er werde den Jungen finden. Der Titel "Ein Kind wird gesucht" trifft dafür die erzählerische und gestalterische Haltung: Da Röder und Breinersdorfer die Arbeit der Polizei minutiös schildern und Regisseur Urs Egger die Ereignisse betont sachlich inszeniert, wirkt der Film mit seinen fürs ZDF typischen kühlen Krimibildern und der sparsam eingesetzten Musik mitunter wie ein Dokudrama ohne Interviews. Eigen- und Ortsnamen der wichtigsten Beteiligten wurden nicht fiktionalisiert, regelmäßige Einblendungen ("Tag 16") zeigen an, wie viel Zeit seit dem Verschwinden des Jungen verstrichen ist. Das Drehbuch basiert auf den Sachbüchern "Soko im Einsatz" von Thiel sowie "Mirco: Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen" von den Eltern des Jungen. Sie geben dem Fall eine spezielle Note, denn sie sind Mitglieder einer freikirchlichen Pfingstgemeinde. Mit tiefgläubigen Menschen tut sich das Fernsehen immer schwer, und auch dieser Film bildet da keine Ausnahme: Sandra und Reinhard Schlitter machen auf die Beamten (und damit auf die Zuschauer) den Eindruck, als seien sie nicht von dieser Welt. "Bisschen verspult" nennt sie einer der Polizisten. Dass es befremdlich anmutet, wenn die Eltern Trost im Gebet finden oder Thiel versichern, Jesus sei immer bei ihm, ist jedoch Sache des Regisseurs: Egger zeigt die Schlitters konsequent aus sekularer Perspektive und lässt sie auf diese Weise wie sektiererische Sonderlinge wirken. Die Besetzung und die Führung der Schauspieler unterstreichen diese Haltung noch.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Heino Ferch spielt den Soko-Leiter, wie er solche Rollen meistens angeht: ohne eine Miene zu verziehen. Es sind nicht die Sonnenbrille oder die schwarze Lederjacke, die Ingo Thiel zu einem coolen Typen machen, sondern Ferchs Ausstrahlung. Zwischendurch rastet der Mann mal aus, weil ein Vorgesetzter die Soko verkleinern will oder weil ein Mitarbeiter unbestätigte Informationen an die Eltern weitergegeben hat, aber ansonsten verkörpert Ferch den Polizisten als Mann, der sich ein Ziel gesetzt hat, und das will er erreichen; nicht obsessiv, aber ohne Rücksicht auf Verluste. Die zwei Szenen, die dies verdeutlichen sollen, sind Egger allerdings arg klischeehaft geraten: Thiel, offenkundig geschieden, bekommt Krach mit seiner Ex-Frau, weil er nach Mirco sucht, anstatt sich um seine eigenen Söhne zu kümmern. Aus Sicht des offenbar areligiösen Polizisten ist Sandra Schlitter eine sonderbare Frau, zumal Silke Bodenbender die Mutter in ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen mit einem imaginärem Heiligenschein versieht. Im Vergleich zu soviel Sanftmut im Verbund mit der Bereitschaft, dem Mörder zu vergeben, versieht Johann von Bülow den Vater mit einer fast schon erfrischenden Diesseitigkeit, denn er stellt die Frage aller Zweifelnden: Wenn Jesus immer da ist, wie kann er dann so eine Untat zulassen? Die Soko-Mitglieder überprüfen Reinhards Alibi und erkundigen sich nach allzu innigen Kontakten zu den männlichen Gemeindemitgliedern. Zur Routine gehört auch die Frage, ob Sandra womöglich ein Verhältnis habe, weil sich pädophile Männer gern über die Mütter an die Kinder ranmachten. Gegenseitige Vorwürfe der Eltern bleiben nicht aus, aber die jeweils einzeln ausgesprochene Aufforderung der Ermittler, sich gegenseitig im Auge zu behalten, schweißt das Paar wieder zusammen. Größter Identifikationsmoment ist ein Fernsehauftritt Sandras, bei dem Bodenbender die Verzweiflung der Mutter derart gut vermittelt, dass spätestens jetzt jede Distanz erlischt. Abgesehen von den zwei oder drei Wutausbrüchen Thiels ist dies die einzige zutiefst emotionale Szene des Films, was ihre Wirkung nochmals verstärkt.
Der Rest ist Polizeiarbeit und entsprechend mühsam: Draußen durchkämmen Suchtrupps die Gegend, drinnen werden Unmassen von Daten ausgewertet; der Schauplatz, ein verlassenes Finanzamt, ist ähnlich trostlos wie irgendwann die Stimmung der Beamten. Umso größer ist der Respekt, den der Film ihnen erweist: Erstaunt und erfreut stellt Thiel fest, dass selbst an Weihnachten alle geschlossen zum Dienst erschienen sind. Da Buch und Regie gerade in der zweiten Hälfte, in der die Eltern nur noch am Rande auftauchen, sehr nüchtern die Ermittlungsarbeiten schildern, bekommen die wenigen zwischenmenschlichen Momente umso mehr Gewicht: als die Truppe gänzlich unironisch den fünftausendsten telefonischen Hinweis feiert oder von Sandra an Nikolaus mit Präsenten überrascht wird. Alles andere als angenehm, gerade aus journalistischer Sicht, sind dagegen die abstoßenden Methoden der Boulevardpresse, der älteren Töchter ein paar Sätze zu entlocken. Das Mädchen ist auch an der einzig unglaubwürdigen Szene beteiligt, als die kleine Schwester in kindlicher Unbefangenheit fragt, ob sie nun Mircos Zimmer bekommen könne, und von der größeren zurechtgewiesen wird. Diese Empörung wirkt ähnlich aufgesetzt wie einige Dialogsätze der Kinder über Gott, aber womöglich wollte Egger diese Momente ganz bewusst so stehen lassen: um nahezulegen, dass gerade die ältere Tochter nicht sagt, was sie denkt; die Eltern mögen ein gottgefälliges Leben führen, aber die Kinder wollen vor allem den Eltern gefallen. Seltsam, dass der Film die Familie so diskreditiert; nötig hat er das ohnehin nicht.