Herr Kaufmann, wie kam es zu dem Projekt?
Michael Kaufmann: Die Idee, Orgel und Orgelmusik als kulturell-gesellschaftliches Phänomen zu beschreiben, hatte ich schon seit 20 Jahren. Durch die Projekt-Finanzierung bin ich nun in der Lage, mich der Forschung intensiver zu widmen. Die Bamberger Kulturwissenschaftlerin Uta Hengelhaupt, die mit mir zusammen forschen wird, hat als gelernte Cembalobauerin auch einen engen Bezug zum Thema.
Von welchen Hypothesen gehen Sie aus?
Kaufmann: Der Forschungsansatz fußt auf der These, dass das Musikinstrument Orgel in der Kulturgeschichte Europas als ein Symbol für Erscheinungen, Traditionen, Innovationen und Kodierungen gelten kann, in denen sich Geist und Geschichte des Kontinents bis in die Gegenwart spiegeln. Als Frage formuliert: Können Klangvorstellungen oder Klangideale hörbare Hinweise des Lebensgefühls einer Epoche und ihres Wandels sein?
Wie ist der zeitliche und inhaltliche Rahmen?
Kaufmann: Wir betrachten die Entwicklungen mit Beginn der Französischen Revolution 1789 - also von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Die Laufzeit des Projektes beträgt 18 Monate, von Oktober 2017 bis März 2019. Am Ende werden wir die Ergebnisse unserer Studien als Buch, Datenträger und auch im Internet veröffentlichen.
Im Musikleben der Zeit, die Sie untersuchen, steht die Orgel doch eher am Rande. Warum ist sie in Ihren Augen dennoch ein beispielhaftes Instrument?
Kaufmann: Die Entwicklung des Klaviers ist Mitte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen, die der Streichinstrumente noch deutlich früher. Bei der Orgel geht es dagegen immer weiter. Sie erobert sich neue Räume außerhalb der Kirchen, in Theatern, Konzertsälen und Kinos. Der Orgelbau reagiert fortlaufend auf technische Neuerungen - von mechanischer über pneumatische und elektrische Tonsteuerung bis hin zur Integration digitaler Technik. Jedes Instrument hat eine ganz individuelle Beziehung zu dem Raum, in dem es aufgestellt wird.
"Das bürgerliche Publikum in Konzert und Gottesdienst nahm die Orgel und die dafür geschriebene Musik als Teil seines kulturellen Selbstverständnisses wahr"
Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich?
Kaufmann: Das Phänomen ist nur deutbar, wenn man sich interdisziplinär bewegt. Das kann man auch auf anderen Gebieten der gesellschaftlichen Entwicklung sehen. So assimilierte sich das liberale Judentum im Zuge der Aufklärung über den Einbau von Orgeln in Hunderte von Synagogen, die Nationalsozialisten missbrauchten das Instrument zur Pseudosakralisierung ihrer politischen Feiern, der Bürgerrechtsbewegung in der DDR galt es als Symbol des Widerstands. Diese und weitere Linien wollen wir aufzeigen und in größere Kontexte stellen.
Ihre Forschung will Orgelbau und Orgelkomposition mit soziologischen Aspekten verbinden?
Kaufmann: Ja, denn ich bin davon überzeugt, dass beides einander bedingt. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die Wechselwirkung von technischer und musikalischer Entwicklung brachte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen monumentalen Instrumententyp hervor, die spätromantische Orgel. Eine High-Tech-Maschine mit der Ausdruckskraft eines symphonischen Orchesters. Das bürgerliche Publikum in Konzert und Gottesdienst nahm die Orgel und die dafür geschriebene Musik als Teil seines kulturellen Selbstverständnisses wahr. Dieses wiederum korrelierte mit anderen Formen der Kunst, wie der gründerzeitlichen Architektur und Städteplanung, und basierte auf dem enormen wirtschaftlichen Wachstum der Industriealisierung. Um die Ursachen und Gründe für einen bestimmten Zustand der Orgelkultur zu erkennen hilft daher nur eine umfassende Betrachtung.
Wie ist die Forschungslage zum Thema Orgel - gibt es noch "weiße Flecken"?
Kaufmann: Die Orgel hat in Europa und speziell in Deutschland eine mehr als 1.200-jährige Geschichte. Es wurde bereits sehr viel geforscht. Zusammenhänge und historische Verbindungen über einzelne Regionen hinaus sind aber vielfach noch nicht aufgedeckt, ebenso die soziokulturellen Kontexte, in die das Instrument eingebettet war. Da ist noch für Generationen Arbeit vorhanden.
Sollen von der Forschung auch praktische Impulse, etwa für den künftigen Orgelbau und die Orgelpflege ausgehen?
Kaufmann: Das wünschen wir uns sehr. Als Orgelsachverständiger erlebe ich es immer wieder, dass eine Vernetzung zwischen Kirchengemeinde, Orgelbauer, Organist und anderen Beteiligten wie Architekten, Denkmalpfleger oder Sponsoren nur unzureichend oder manchmal gar nicht passiert. Gute Ergebnisse erreicht man jedoch am besten, wenn möglichst umfassend gedacht und diskutiert wird. Unsere Forschungen könnten hier Anreize bieten, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und die Bedürfnisse der anderen Beteiligten leichter wahrzunehmen. Indem sie die zu allen Zeiten bestehende Vielfalt von Zusammenhängen bewusst macht.
Sie haben seinerzeit die Anträge zur Aufnahme von Orgelbau und Orgelmusik in die Liste des UNESCO-Kulturerbes mit formuliert? Gibt es eine Verbindung von dort zu dem Forschungsprojekt?
Kaufmann: Aufgrund der positiven Reaktionen von Seiten der Bundesregierung war es gut möglich, bei der Volkswagenstiftung auf die politische Relevanz des Themas zu verweisen. Zudem hatte man in dem Programm "Originalitätsverdacht". Noch niemals zuvor wurde ein Projekt auf musikalischem Gebiet gefördert. Die Stiftung ist sonst eher auf Naturwissenschaft, Technik und klassische philologische Themen ausgerichtet. Beide Komponenten sorgten wohl mit dafür, dass der Antrag zu einer "Phänomenologie der Orgel" bewilligt wurde.