Allerdings hatte Vera von Anfang an grundsätzliche Differenzen mit ihrem Chef: Die Arbeitspläne, die Chris Wegner (Simon Schwarz) ihr mit auf den Weg gibt, sind derart straff getaktet, dass pro Patient im Schnitt nur acht Minuten bleiben. Weil Vera die Bedürfnisse der Menschen nach eigenem Gutdünken bewertet, muss sie ständig Termine verschieben. Als eine alte Frau nicht zurückrufen kann, weil sie nach einem Sturz stundenlang hilflos auf dem Boden liegt, kommt es zum Eklat.
Die Helferinnen aus vergleichbaren ZDF-Reihen wie "Lena Lorenz" oder "Marie fängt Feuer" haben ebenfalls Sorgen und Probleme; aber bei Vera sind sie existenzieller Natur. Deshalb steht "Die Eifelpraxis" auch für einen anderen Anspruch: Die Versorgungsassistentin repräsentiert all’ das, was im deutschen Gesundheitssystem in den letzten Jahren schief gelaufen ist. Diese Ebene rückt im vierten Film stark in den Vordergrund. Deshalb beschränkt sich "Eifelpraxis"-Autorin Brigitte Müller diesmal auf eine Patientin: Försterin Hanna (Jytte-Merle Böhrnsen) droht die Erblindung. Auf einem Auge kann sie schon seit vielen Jahren nichts mehr sehen; nun löst sich auch beim anderen die Netzhaut. Eine Operation könnte helfen, aber Hanna hat panische Angst davor, dass sich ihr traumatisches Kindheitserlebnis wiederholt, als die gleiche Operation misslang; ein Gefühl, dass jeder Zuschauer nachvollziehen kann. Weil Vera alles versucht, um Hanna die Angst zu nehmen, vernachlässigt sie zwangsläufig ihre anderen Patienten. Als Wegner ihr verbietet, sich um Hanna zu kümmern, und ihr klar wird, dass sie und ihr Chef sich in dieser Grundsatzfrage wohl nie einigen werden, zieht sie die Konsequenzen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Als weitere neue Rolle wird Daniel (Aleksandar Radenkovi?) eingeführt, der für einen Liebhaber Veras eigentlich zu jung ist. Tatsächlich war er als Zivildienstleistender dabei, als ihre Mutter starb, mit der sich Vera als junge Frau unreparierbar verkracht hatte; noch ein Aspekt, der der Figur zusätzliche Tiefe verleiht. Daniel ist mittlerweile Journalist und beruflich in der Eifel; oder doch auch privat? Jedenfalls macht er sich im Hause Mundt umgehend unverzichtbar. Neu im Ensemble ist zudem René Steinke, der von Ralph Herforth die Rolle des Krankenhausarztes übernommen hat. Henning und Wegner hatten im letzten Film ("Väter und Söhne") kräftig um Veras Gunst gebuhlt. Offenbar kann der Landarzt Beruf und Privatleben gut trennen; von der Zuneigung ist jedenfalls nichts mehr zu spüren. Davon abgesehen hat Simon Schwarz erneut maßgeblichen Anteil daran, dass auch die vierte "Eifelpraxis"-Episode nicht nur für die typische Zielgruppe des Freitagsfilms im "Ersten" sehenswert ist. Wie gut das Konzept der Reihe ist, zeigt eine kurze Szene mit großem Kitschpotenzial: Hanna trifft im Wald einen Blinden, der ihr rät, ihr Schicksal anzunehmen; Broecker inszeniert den Moment jedoch genauso sachlich wie den Rest des Films. Dass ausgerechnet die so stark wirkende Vera zwischendurch öfter den Tränen nahe ist – aus Empörung, Erschöpfung oder Erleichterung –, zeigt nur, wie nah an der Wirklichkeit Brigitte Müller diese Figur konzipiert hat: Die Krankenschwester ist keine überlebensgroße Heldin, sondern ein Mensch wie du und ich.