Helga Schauertes Beruf ist in Frankreich etwas besonderes, das beweist diese Geschichte: "Als ich als Studentin 1983 in Paris ein Girokonto bei der Bank eröffnen wollte", erzählt sie, "kam die Frage nach meinem Beruf, die ich mit Organistin beantwortete. Dieser Beruf war dem Bankangestellten völlig unbekannt. Er trug 'Organisation' in die Akte ein."
Organist ist in Frankreich auch heute kein anerkannter Beruf. Die Kirchen sind als private Kultusvereine formiert und dürfen streng genommen nur Gottesdienst und Seelsorge betreiben. Sie leben von den Beiträgen der Mitglieder, die am Sonntag in den Gottesdienst kommen. Von Spenden, Kollekten und Vermächtnissen. Das Budget ist im Vergleich zu einer landeskirchlichen Gemeinde in Deutschland sehr schmal. Da ist es schon eine große Gunst, wenn die Organistin Helga Schauerte in Paris an der Christuskirche eine bezahlte Stelle besetzt.
Die Gunst ist wohl der lutherischen Musik-Tradition zu verdanken: Die Deutsche Evangelische Christuskirche besteht seit 1894. Aber kein Geld der Welt kommt ohne Beziehungen aus. Von Mensch zu Mensch. Die unterhält Helga Schauerte. Zu Musikern in Europa und den USA. Zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und zur Deutschen Botschaft Paris.
Die EKD hat an der Christuskirche Paris dieses Jahr das Luther-Festival mitfinanziert. Helga Schauerte hat eine Voraufstellung der Kosten gemacht und ihre Eigenbeteiligung erklärt. Dann hat sie bei der EKD einen Zuschuss beantragt. Und erhalten. "Ich habe der EKD dann den Prospekt zum Luther-Festival gesendet", sagt Schauerte. "Und er hat ihnen sehr gefallen." Die EKD habe sich persönlich bei ihr für das Luther-Festival bedankt.
Aber was wären Geld und Beziehungen ohne den Glauben? Helga Schauertes Glaube spielt mit an der Orgel. Ihr Glaube sprüht und geht über auf den Zuhörer, der beim Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach (1685-1750) die Freude über die Geburt Christi spüren darf. Die Geburt Christi ist ein Heilsgeschehen. Eine Erfahrung Jesu. Und an ihr hat man teil, wenn man Helga Schauertes Musik erlebt. Ihre Musik ist gelebter Glaube. Der Zuhörer erfährt: Jesus ist hier und jetzt unter uns!
Zu den Noten, die Musiker und Sänger auswendig lernen, kommt das religiöse Erlebnis, das die Musik inspiriert. Wer dieses Erlebnis hat, der fühlt sich dann auch in die Melodie ein. Der kann dann auch die Frage beantworten, die Helga Schauerte im Unterricht so gern ihren Schülern stellt: "Wo steckt hier der Choral? Wo steckt hier die Melodie?"
Auch am 10. Dezember 2017 kann das Weihnachtsoratorium von Bach ein solches Erlebnis werden. Für Musiker und Zuhörer. Um 17 Uhr lädt Helga Schauerte in die Deutsche Evangelische Christuskirche Paris ein. Zu hören sind die Teile eins, vier und sechs dieses populären Bachwerkes. Helga Schauerte vertritt dabei die Christuskirche Paris, durch ihren Verein Pro Musica. Den hat sie vor einigen Jahren gegründet. Als Vorsitzende des Vereins will sie die lutherische Kirchenmusik an der Christuskirche fördern. Sie arbeitet dafür mit dem Pariser Kammerchor Les Temperamens Variations zusammen. Und die Deutsche Botschaft Paris unterstützt das Oratorium. Helga Schauerte versteht das Konzert als deutsch-französisches Gemeinschaftsprojekt.
Das Weihnachtsoratorium ist ein sechsteiliges Oratorium für vier Solostimmen, gemischten Chor und Orchester. Uraufgeführt wurden die einzelnen Teile erstmals in Leipzig in der Nikolaikirche und vom Thomanerchor in der Thomas-Kirche. In den sechs Gottesdiensten zwischen dem ersten Weihnachtstag 1734 und dem Epiphanias-Tag 1735. Feierliche Eröffnungs- und Schlusschöre kennzeichnen das Oratorium. In den Rezitativen ist die neutestamentliche Weihnachtsgeschichte vertont. In das alles hat Bach Choräle eingestreut und Arien für die Gesangssolisten. Das Weihnachtsoratorium ist unter den geistlichen Vokalwerken von Bach das populärste. Warum fördert die Deutsche Botschaft Paris das Weihnachtsoratorium?
"Begründet wurde diese Tradition 2014", erinnert sich Laura Besl, Referentin der Kulturabteilung der Deutschen Botschaft Paris: "Von unserem damaligen Leiter Fried Nielsen. Er ist Pastorensohn und hat gesagt: Das Weihnachtsoratorium von Bach ist ein schöner Brauch! Es wird in Deutschland in vielen Städten und Dörfern gespielt. Und diese Tradition wollen wir auch in Paris pflegen." Die Mittel kommen aus dem Jahresbudget der Kulturabteilung.
Der Reinerlös geht an das Projekt "La Banda de Musica", das weniger bemittelten Kindern in Mexiko Zugang zur Musik verschaffen soll. Das Ziel des Projekts: Die oft auf Müllhalden lebenden Kinder sollen durch diese Musikausbildung einen Lebensinhalt finden. Die Mitarbeiter kaufen oder reparieren dazu gebrauchte Instrumente. Sie versorgen die Kinder mit Notenmaterial und finanzieren den Unterricht.
Protestantische Kirchenmusik in Frankreich: gibt es das überhaupt? "Natürlich", sagt Helga Schauerte. Die wichtigste Liedersammlung sei 'Le Psautier huguenot' von 1539. In dieser Sammlung seien sämtliche 150 Psalmen Davids von Clément Marot und Théodore de Bèze vertont worden. Viele Psalmen seien von Komponisten wie Claude Goudimel, Claude le Jeune und anderen bearbeitet worden. In vierstimmigen Sätzen. Die französische Kirchenmusik sei anders gelagert als die deutsche. Und sie sei auch zunächst auch kaum von ihr beeinflusst worden. Erst im 19. Jahrhundert seien einige Lutherlieder in Frankreich bekannt geworden. Vermutlich im Zuge der Bachrezeption.
Was hört man sonst in der Christuskirche? "An der Deutschen Evangelischen Christuskirche in Paris pflegen wir vor allem die Kirchenmusik der lutherischen Tradition mit ihren großen Vertretern von Schütz bis Bach, von Mendelssohn bis Distler." Helga Schauerte hat das gesamte Orgelwerk von Jehan Alain (1911-1940), Dietrich Buxtehude (1637-1707) und Johann Heinrich Buttstett (1666-1727) eingespielt. Die Deutsche Evangelische Christuskirche ist eine deutschsprachige Auslandsgemeinde und arbeitet kultisch und musikalisch eng mit der EKD zusammen. Im September war ein Posaunenchor aus Bayern in Paris zu Gast. "Ein Posaunenchor, das ist ja eine typische deutsch-evangelische Einrichtung", sagt Schauerte. "Diese Musikgruppen unternehmen eine Reise nach Paris und freuen sich, dass sie bei uns musizieren dürfen. Unsere Gemeindeglieder profitieren davon – ein für alle Anwesenden erlebnisreicher Austausch." Darüber hinaus bemüht sich Schauerte an der Christuskirche um deutsch-französische Begegnungen von Musikern. So will es die Tradition beim jährlichen Weihnachtsoratorium von Bach: Die aus Deutschland geladenen Gesangssolisten arbeiten zusammen mit einem französischen Vokal- und Instrumentalensemble.
In der Regel sei der Organist in Frankreich nicht hauptamtlich tätig, sagt Schauerte. Bezahlte Stellen gebe es nur in Paris und ihren Vororten, außerhalb von Paris vielleicht noch an den größeren Stadtkirchen. In der Kathedrale Notre-Dame de Paris – im Herzen der Stadt – teilen sich die vier Organisten eine Stelle. So, dass jeder die musikalische Gestaltung eines Quartals übernimmt.