Die große Weltkarte hängt im Eingang der Pauluskirche in Bochum. So eine, wie sie früher im Geografieunterricht an wackeligen Kartenhaltern heruntergerollt wurde. Darüber legen sich wie ein Bienenschwarm schwarze Punkte. Jeder steht für ein Gemeindemitglied, genauer: für seinen Herkunftsort. Kaum eine Weltgegend, die in der Kirche in Bochum keinen Vertreter hat. Darauf ist die ECC stolz.
Die Gemeinde hat illustre Gründer - ihre Geschichte begann mit einem Trauerfall. Das Ensemble des Musicals Starlight Express, das in Bochum auftrat, brauchte 1993 dringend einen englischsprachigen Pfarrer, denn einer der Künstler war tödlich gestürzt. Der Gottesdienst war so schön, dass man beschloss, zusammen Weihnachten zu feiern, schließlich eine Gemeinde zu gründen. "Der Bedarf war da", sagt Pfarrer James Brown. "Schon beim ersten Gottesdienst waren achtzig Gläubige."
Seitdem sind es immer mehr geworden. Mittlerweile mischen sich sonntags viele Kulturen im Gottesdienst, beim Kaffeekränzchen, in der Bibelstunde. Das ist bunt, das ist spannender Austausch - und oftmals ist es genau deswegen auch eine Geduldsprobe.
An diesem Tag feiert die Gemeinde Erntedank. Es sind zwei Taufen geplant. Dachte zumindest Pfarrer Brown. Ein Täufling erscheint nicht, und der andere? Na, da sind doch schon Mitglieder der Familie! Aber das Kind, wo ist das Kind? Warum kommen sie nicht rein?
Primärtugenden fürs Gemeindeleben: Flexibilität und Geduld
Pfarrer Braun ist Schotte, kurz vor der Rente, in den Gesichtszügen eine lakonische Abgeklärtheit, der Händedruck so lebhaft wie seine Art zu sprechen. Geduld ist ihm nicht angeboren. "Gottesdienste wie dieser waren lange der Horror für mich", sagt er. Diesmal aber meistert er es wacker, verschiebt die Taufe hinter das Abendmahl, hinter das nächste Lied, hinter die Kollekte, predigt erstmal: Über typisch deutsche Wörter: "Selbstverständlich", "Sehnsucht" und "Sekundärtugend." Alles Worte, für die es keine direkte Übersetzung ins Englische gibt, sondern gleich mindestens zwei. Ist etwas selbstverständlich im Sinne von üblich? Oder will jemand sagen: Nichts zu danken?! Jedenfalls, appelliert Brown an seine Gemeinde, solle man nicht alles zu selbstverständlich nehmen, was für viele in Deutschland leider mittlerweile eine Sekundäruntugend sei, im Gegensatz zu der sehr löblichen Tugend: Nämlich zu danken.
Das Kind ist immer noch nicht da. Also noch das Lied. Und die Ankündigungen. Nun werden Familienmitglieder nervös, eilen raus. Vor dem planmäßigen letzten Lied schreitet die Taufgesellschaft des kleinen Jeremia über den Mittelgang. Brown ist sichtlich erleichtert, erst recht die Gemeinde. Der winzige, zarte Jeremia findet das Wasserpritscheln lustig. Seine Familie, ursprünglich aus Kamerun, ist selig. Pfarrer Brown dankt allen für ihre Flexibilität und Geduld. "Meine alten schottischen Schulfreunde haben mich das schon gefragt, was ich hier lerne", sagt er. Als er antwortete: geduldig zu sein, erntete er viele Lacher. Geduld liegt wirklich nicht in seiner Natur.
Eine internationale Gemeinde zu sein, heißt mehr aufeinander zu achten, noch sensibler als vielleicht in anderen Gemeinden. Und es braucht Konfliktbereitschaft. Es gibt unterschiedliche Erwartungen und Gewohnheiten: Manche stehen bei den Lesungen auf. Andere sprechen das Glaubensbekenntnis etwas anders. Zwischen Afrikanern und Asiaten kommt es oft zu Missverständnissen.
Für die Afrikaner ist Singen vielleicht der allerwichtigste Bestandteil des Gottesdienstes. Sie sagen: "Was macht es für einen Sinn, ein Lied zu singen, das ich nicht kenne? Dann komme ich gar nicht mehr her!" Also lernen sie in jedem Gottesdienst ein neues Lied. Und sie haben ein Sternchensystem eingeführt. Jeder darf sein Lieblingslied markieren. Das ein oder andere Lied mag nicht allen bekannt sein, wenn es aber sichtbar das Lieblingslied von jemandem ist, wird darauf Rücksicht genommen. In vielen Kulturen gehört es dazu, sich beim Gruß fest in die Augen zu schauen - in vielen afrikanischen Kulturen gilt genau das Gegenteil: man schaut zu Boden. "Ich glaube, der mag mich nicht", die Bemerkung hört Pfarrer Brown immer wieder. "Der schaut mich beim Friedensgruß nie an."
Der Gemeindevorstand stemmt einen Sack Äpfel in die Höhe. Alle sehen ihn erwartungsvoll an. "Beste Qualität", sagt er bescheiden. Alle lachen. Dann gibt es die ersten Gebote. Der Sack geht weg für zwanzig Euro. "Hier habe ich ein Brot! Selbstgebacken! Handarbeit! Liebevoll gemacht! Ohne Konservierungsstoffe!" Eine Frau erhält bei zehn Euro den Zuschlag. An Erntedank ist die Versteigerung eine besondere Tradition der Gemeinde. Jeder spendet eine Kleinigkeit, die Erlöse gehören der Gemeinde. Der Ursprung der Gemeinde ist europäisch, westlich, die Versteigerung geht auf afrikanische Traditionen zurück. Vielen anderen Kulturen liegt das nicht. Am Erntedankgottesdienst nehmen sie deshalb gar nicht erst teil.
"In Afrika gibt es hier eine Konkurrenz zwischen Stämmen oder Dörfern", erklärt Gundi Dehling. "Es kommt darauf an, dass die eigene Spende den höchsten Preis erzielt - und es kommt darauf an, sich als besonders freigiebig zu profilieren." Damit habe sie auch Probleme. "Andererseits ist das in unserer Gemeinde nicht so", sagt sie. "Und es dient dem guten Zweck." Also hat sie eine Packung Cookies und ein Kilogramm Orangen ersteigert.
Sie ist Deutsche, hat aber jahrelang im Ausland gelebt. Aus einer Art Nostalgie hatte sie sich danach einer englischsprachigen Gemeinde angeschlossen. Nicht zuletzt bot sie auch damals schon eine Kinderbetreuung während des Gottesdienstes an, viele deutsche Kirchen waren damals noch nicht so weit. Jetzt möchte sie den Austausch und die Offenheit nicht mehr missen. Auch wenn es manchmal viel Geduld kostet.
"Wir üben uns täglich darin, einander zu nehmen, wie wir sind."
Die Versteigerung von Obst, Gemüse, Duschpackungen, Bodylotions und Reisetaschen bringt der Gemeinde am Ende knapp dreihundert Euro. Die Gesellschaft verlagert sich in den Gemeindesaal, zum Sonntagsbuffet, einem geschmacklichen Mix aus sämtlichen afrikanischen und europäischen Kulturen.
"Wir üben uns täglich darin, einander zu nehmen, wie wir sind", sagt Brown, sagt Dehling, sagt Debby. Die füllige, mütterliche Frau aus Nigeria mit buntem Kostüm und Tuchgezwirbel auf dem Kopf spielt im Gottesdienst die Trommel zum Gospelchor. Sie lacht laut. Eine Zeit lang hat sie den Chor geleitet. Es gab Missverständnisse. Also überließ sie die Leitung anderen und suchte Abstand, versuchte es mit einer anderen Kirchengemeinde. "Aber es fühlte sich ganz anders an", sagt sie. Als sie aber einmal zum Gottesdienst zurückkam, wurde sie von allen herzlich und warm begrüßt. "Da habe ich so viel Liebe gespürt, mehr als in irgendeiner anderen Kirchengemeinde. Mir ist das Herz wieder aufgegangen", sagt sie. "Die Menschen sind gut hier. Und man muss auf sein Herz hören. Die Liebe ist das Größte, das was uns alle zusammenhält. Diese Liebe finde ich hier!"
Hier gehören eben doch alle zusammen und Freundschaften wiegen schwerer als Missverständnisse. Im Gottesdienst, der Friedensgruß: May peace be with you. Als sie noch eine Hand voll Leute waren, haben sie eingeführt, dass alle aufstehen und sich der Reihe nach die Hand geben. Es wurden immer mehr Leute, mittlerweile sind es jeden Sonntag achtzig bis hundert Leute aber der Brauch ist geblieben. "Jetzt dauert es eben länger", sagt Brown schulterzuckend und übt sich mal wieder in Geduld, während sich die Peace-Polonaise aus mehreren Richtungen durch die ganze Kirche schlängelt. May peace be with you. May peace be with you. Blaue Augen, dunkelbraune Augen, hellbraune Augen, gesenkte Blicke, fester Händedruck, zarter Händedruck. May peace be with you. Nach einigen Wiederholungen gerät der Satz zum Zungenbrecher. Kichern. Bewegung kommt in die Gemüter, in die Körper. Beschwingt und einander irgendwie vertrauter kehren alle auf ihre Plätze zurück.