München Olympiadorf. Raus aus der U-Bahn geht es in einen Urwald aus Farben, Formen und Gegensätzen, wie sie in einen der mystischen, bildgewaltigen Filme aus Asien passen könnten. Wild begrünte Terrassenhäuser wechseln mit Betontürmen, durch die finstere Passagen an muffigen 24-Stunden-Kiosken vorbei führen. Dazwischen Brunnen, Skulpturen, verwinkelte, verwirrende Gassen, in denen sich die Familie mit Buggy und der Herr mit Dackel verlieren und wieder kreuzen – und die Koreaner, die ebenfalls von der U-Bahn und der Bushaltestelle auf vielen Wegen zu ihrem Gemeindesaal huschen, sich kreuzen und wieder verlieren.
Im Sitzrondell vor dem Eingang sitzt eine verträumte schmale Asiatin und hält das Gesicht in die Sonne – soweit es geht. Auf dem dicken schwarzen Haar ein breitkrempiger Strohhut. "Sie stören", sagt sie plötzlich mit rüder Stimme. "Gehen Sie weg."
Später wird die Frau als das vielleicht krasseste Beispiel für die Aufgaben genannt, vor die die Gemeinschaft jeden einzelnen stellt. Seit einigen Wochen kommt sie zu den Gottesdiensten. Keiner weiß, woher, sie ist seltsam. Aber offensichtlich sucht sie Gott – und Anschluss. Anschluss, Zusammenschluss, alle suchen ihn hier irgendwie. Aber wie sich die Passanten im Olympiadorf kreuzen und verlieren, passiert es auch den Mitgliedern der Evangelischen Deutsch-Koreanischen Gemeinde in München. Drei Generationen Einwanderer treffen hier aufeinander. Die ersten kamen in den Fünfzigern und flohen vor einem armen, zerrütteten Land. Später Wissenschaftler, um der Forschung willen. Nun sind es vor allem Studenten, die das technologisierte Süd-Korea für ein Auslandsjahr, oder zwei, verlassen. Gemeinsam haben sie – fast nichts. Jeder hat ein anderes Korea verlassen, das nicht unterschiedlicher hätte prägen können. Einander lieben lernen, das ist ihre größte Übung.
Drinnen Brabbeln, geschäftiges Treiben. Im Vorraum klappert Geschirr. Es wird schon mal gekocht. Viele Gemeindemitglieder wohnen im weitläufigen Umland von München. Pfarrer Kim Jong-Wook kommt sogar aus Nürnberg angereist. Der Gottesdienst ein Tagesausflug, da versteht sich das gemeinsame Essen von selbst. Es gibt Glasnudeln mit Gemüse, die traditionelle Fischsuppe, zum Nachtisch Obst. Die Koreaner essen mit Stäbchen aus Metall. Einerseits liegen sie stabiler in der Hand, als die Holzstäbchen im Chinarestaurant – andererseits sind sie viel rutschiger. "Übungssache", sagt Hyon-Sook und lacht.
Klein, weiße Bluse, dunkle Haare, handfest, 69 Jahre alt ist sie, könnte auch erst Mitte 50 sein, und gehört zu den ersten, die in der Nachkriegszeit nach München gekommen sind. "Vietnam war arm", sagt sie. "Es war kaputt." Und ihre Familie war buddhistisch. "Mädchen, die in die Kirche gehen, versündigen sich", sagten sie ihr. "Aber was ein Kind nicht soll, tut es erst recht", sagt Hyon-Sook. Die Kirche am anderen Ende des Dorfes war zu verlockend. Sie büxte immer wieder aus, wurde erwischt, vom Bruder geschlagen. Schließlich schmiedete sie einen Plan. Sie beschloss, Krankenschwester zu werden. Die Ausbildung war weit weg, sodass sie ausziehen musste. Nun konnte niemand mehr überwachen, ob sie in die Kirche ging. "Gott ist immer bei mir geblieben", sagt sie fest, lächelt unbestimmt und neigt den Kopf ein wenig. "Und wenn ich etwas gewankt bin, dann hat er mich immer wieder in den Glauben zurückgeholt."
Ablaufplan und Predigt auf Deutsch vorbereitet
Der Gottesdienst findet im Gemeindesaal statt, die Wände sind hoch und hell, die Fassade ist bis unter die Decke verglast, durch die Schiebetür huscht eine Nachzüglerin aus der Spätsommerwärme in den weißen Raum. Das Klavier erklingt und die Stimmen der Gemeindemitglieder, ausgebildet, melodisch, mehrstimmig – als träfen sie sich zwischendrin noch zu Chorproben. Aber nichts da. Schließlich mögen Koreaner Musik. Was man mag, mit dem beschäftigt man sich. Und dann macht man es eben gut – nicht so wischiwaschi wie in den deutschen Kirchen. Kichern.
Deutschen Besuchern wird eine Übersetzerin zur Seite gesetzt, eine zweisprachige Bibel in die Hand gedrückt, Ablaufplan und Predigt sind schon auf Deutsch vorbereitet. Immerhin ist das hier die Deutsch-Koreanische Gemeinde. Früher gab es sogar noch eine Dolmetscherin für die Partner. Aber sie haben sich zerstreut. "Jeder hat im Laufe des Lebens seine Gemeinde gefunden", sagt Hyon-Sook. Heute ist nur ein Ehemann erschienen.
Pfarrer Kim Jong-Wook, 43, in der dritten Generation Pfarrer, ist ein beflissener Mann, der freundlich und eindringlich spricht. Er kam vor zwölf Jahren nach Deutschland, um für seine Doktorarbeit in Theologie zu forschen. Sie haben ihn praktisch direkt von der Universität abgeworben. In Nürnberg und München ist er jetzt Pfarrer – die Doktorarbeit immer noch nicht fertig. "Um eins zu sein, brauchen wir die Verherrlichung", predigt er. "Eins zu sein, bedeutet die Herrlichkeit, und das ist, was Gott geplant hat."
Zwei kantige Steine reiben sich weich
Eins sein, das üben sie in der Gemeinde. Jong-Wooks Hauptaufgabe: Zuhören, vermitteln, kitten. Zum Beispiel, wenn die Alten über ihre Ängste sprechen, darüber, wie sehr sie diese Mauer zwischen Nord- und Südkorea schmerzt. Wenn die Jungen dann entgegnen. "Lasst doch diese Mauer sein. Besser ist’s. Die ideologiedurchfütterten Nordkoreaner wollen wir nicht. Sie soll bleiben, die Mauer." Die Alten hegen eine große Dankbarkeit für Deutschland und ein großes Befremden für ihr eigenes Land. Den Jungen sind die deutschen U-Bahnen zu klapprig, die U-Bahnhöfe finden sie ganz schön altbacken – und überall gebe es zu wenig Internet. Und Jong-Wook wirbt wieder für Verständnis bei den einen für die anderen.
Die Geschichte des Christentums in Korea ist zuerst mit der Wissenschaft verknüpft, obwohl es das christlichste der asiatischen Länder ist. Ab dem 17. Jahrhundert wurde es allerdings erstmal als geistiges System erforscht. Missionare kamen hundert Jahre später und die evangelischen sogar erst im 19. Jahrhundert. "Aber die geistliche Entwicklung ist in Korea zu langsam", sagt Jong-Wook. "Nach dem Krieg hat sich Südkorea rasend schnell entwickelt. Es gibt hochmoderne Züge und Architektur. Aber alle studieren Ingenieur oder Architekt. Es gibt wenige Biologen oder Bio-Chemiker, fast niemanden, der sich mit dem Sein auseinandersetzt."
Sungeun ("Song") Lee setzt sich fast auf dieselbe Stelle, auf der vor dem Gottesdienst die Frau mit Schlapphut gesessen hat. Der Platz liegt jetzt im Schatten. Sie streckt sich, ihre Bewegungen sind elastisch, sie blickt wach und offen. Weil sie Profigeigerin werden wollte, ist die 26-Jährige als Kind zum Onkel nach Österreich gezogen. Nun studiert sie Agrarwirtschaft. Sungeun seufzt. Manchmal zweifelt sie an der Gemeinde. "Es gibt viele anstrengende Menschen", sagt sie. "Immer wieder Diskussionen. Viele der Alten verstehen die Jungen nicht. Viele sind speziell." Sie deutet die Frau mit Hut an. Aber es treibt sie eben doch immer wieder zum Gebet, in genau dieser Gemeinde. "Vielleicht ist genau das die Lektion. In der Bibel steht ja, dass wir die Menschen lieben sollen", überlegt sie. "Es ist wie mit zwei kantigen Steinen. Wenn man sie aneinander reibt, runden sie sich irgendwann gegenseitig ab." Sie schaut vor sich hin. "Ich glaube, wenn ich alle aus der Gemeinde lieben kann, dann kann ich wirklich alle Menschen auf der Welt lieben."