Gundi
Foto: Sabine Oberpriller
Gundi, links im weißen Hemd, betet und redet über Noah und seine Arche.
"Wir sitzen alle in einem Boot"
Zu Besuch bei der bulgartürkischen Gemeinde in München
Millet sprechen Türkisch und sind seit der Wende freikirchlich protestantisch. Eine nicht gern gesehene Minderheit in Bulgarien. Die wirtschaftliche Not hat ein ganzes Dorf vertrieben. Fast alle nach München. Dort setzen sie sich für alle Ausgegrenzten ein.

Als Kinder haben sie sich die Nasen an den Scheiben des Gemeindesaals plattgedrückt. Jesus, die Bibel, die spannenden Worte des Missionars, die schönen Lieder. Aufregend war das. "Religion ist nichts für Kinder", schimpften die Großeltern. Aber Gundi und Hasan, die beiden Freunde, die fast wie Brüder sind, ließen sich nicht verscheuchen und die Eltern erlaubten ihnen den Gottesdienst. Die Zeiten, in denen Religion nichts für Kinder war, waren vorbei. Sie hatten Jesus neu kennen gelernt, weit jenseits des Islam und auch jenseits der bulgarisch-orthodoxen Kirche, zu der sie sich offiziell bekennen mussten, ohne dass sie damit besser akzeptiert gewesen wären. Nun aber hatten sie einen Jesus gefunden, der für alle da ist, egal welche Sprache sie sprechen und ob sie Bulgaren, Türken sind – oder Millet, die türkischsprachige Minderheit in Bulgarien, der Hasan, Gundi und ihre Familien angehören.

Knapp 30 Jahre später, München, Bahnhofsviertel, im Kellerraum der Christlichen Gemeinde in der Landwehrstraße. Weil so viele im Urlaub sind, reichen heute die vier langen Couchen und ein paar Stühle. Etwa zwanzig Leute sind es heute. Die Jungen von damals leiten den Gottesdienst. Gundi, schlank im hellen Hemd, lichtes Haar, predigt. Hasan, dunkle Augen, dunkle Haare, dunkles Hemd, äußerst lichter Haarkranz, spielt Keyboard, ein anderer begleitet mit einer Handtrommel. Trotzdem wirkt der Raum voll bis unter die Decke: Sie singen fünf, sechs lange Lieder. Sehnsüchtige, orientalische Melodien zum Rhythmus der Trommel: "Bereite mein Herz vor für das Wort", "Fürchte dich nicht". "Lasst uns noch dieses singen", sagen Gemeindemitglieder nach jedem Lied. "Bitte jenes." Alle kennen alle Texte auswendig, singen kräftig mit kehligen, klaren Stimmen, der Raum ist voll Musik. "Der Kleine wünscht sich 'Der Herr hat dich geliebt'", sagt die Mutter eines etwa einjährigen Jungen. Sie singen auch das. Der Kleine hopst begeistert auf Mutters Knien herum und kräht.

Es gab eine Zeit, da dehnte sich das osmanische Reich nach Bulgarien aus. Die Millet sind jene Volksgruppe, jenes ehemals fahrende Volk, das mit den Türken zusammenarbeitete, sich mit ihnen vermischte, den muslimischen Glauben annahm. Als sich das Reich zurückzog, blieben sie – aber die übrigen Bulgaren wollten sie nicht anerkennen. Mit dem Ende des Kommunismus kamen Missionare ins Land. Hoffnung. Hasans Vater träumt plötzlich die Worte von Johannes dem Täufer, andere haben Erscheinungen, Kranke sind angeblich bei den Worten Jesu plötzlich geheilt worden. Die Millet werden freie Christen. Das distanziert sie sowohl von den orthodoxen Bulgaren als auch den muslimischen Türken. Sie werden ausgegrenzt, übervorteilt und ausgebeutet. Die Not hat viele aus ihrem Dorf vertrieben. Fast alle. Und fast alle haben sich tausend Kilometer entfernt in München wiedergefunden. "Gottes Fügung", sagt Hasan. "Jesus meint es gut mit uns, er rettet uns."

Gundi predigt. In der Gemeinde gibt es keinen Vorsitzenden, alle sind gleichberechtigt, gleichbeteiligt, jede Woche predigt ein anderer. Gundi redet über Noah und seine Arche, den Text hat er auf dem Smartphone gespeichert. "Habt ihr euch jemals ausgegrenzt gefühlt", fragt er in die Runde. "Noah wurde auch ausgegrenzt, weil er sein Schiff gebaut hat. Aber er hat von allen Tieren welche dazu geholt, er hat alle versammelt und keines ausgegrenzt." Was hat die Geschichte nun zu bedeuten? Gundis Botschaften sind klar, er zählt auf: "Erstens: Verpasse das Schiff nicht. Zweitens: Wir alle sind im gleichen Boot. Drittens: Geh nicht allein, wen hast du an deiner Seite? Wenn du fällst, hebt er dich auf. Wenn er fällt, hebst du ihn auf. Viertens: Noah war Handwerker, kein Amateur, aber die Pläne hat Gott gemacht. …"

Ein Blick in die Runde der Versammelten.

Ausgrenzung kennt jeder in der Runde zur Genüge. Auch fern der Heimat lehnen die ausgewanderten Bulgaren die Bulgartürken ab. Die meisten haben Arbeit bei türkischen Unternehmern gefunden – und verstecken sich hinter der Sprache. Solange die Türken glauben, sie seien Muslime, sind sie nett. Wenn herauskommt, dass sie Christen sind, viele nicht mehr. Jesus ist die Hoffnung. An Weihnachten und Ostern sind sie hellauf froh, rufen einander an: "Heute ist er geboren, welch eine Freude, welch Glück. Was haben wir für ein Glück. Jesus wurde heute geboren." Nicht ausgrenzen, einladen, wie Jesus einlädt, sie versuchen es. Sie engagieren sich im Bahnhofsviertel, wo die Tagelöhner sich in die grauen Mauernischen der Landwehrstraße drücken und auf miserabel bezahlte Jobs warten, sie besuchen die Stricher, die Prostituierten. Sie sprächen mit ihnen, teilten mit ihnen, lüden sie ein, verhälfen ihnen zu einem Dach über dem Kopf, zu Jobs, sagen sie. Viele kommen immer wieder. An vielen Sonntagen quillt der Kellerraum über. Sie liebäugeln mit größeren Räumlichkeiten.

Gebetsrunde, jeder kommt zu Wort, alle beten mit allen, für alle. Sie bitten um Sicherheit für die Verreisten. "Hilf uns gegen die Bedrohung durch die Islamisten", sagt einer, sagt eine zweite, sagt ein dritter. "Amen, amen", rufen alle innig. Die Islamisten sind sehr nah. Manche wurden von ihnen bedroht. Einer, der erst seit ein paar Monaten in Deutschland ist, sagt, dass er an Weihnachten erst recht einen Christbaum vors Haus in den Boden gerammt und geschmückt habe, hell erleuchtet. Mit Blick auf die salafistischen Nachbarn. "Ich habe keine Angst", sagt er trotzig. Andere haben in ihrer weitverzweigten Verwandtschaft und Bekanntschaft Salafisten. Und nun? Sie sagen nichts. Wenn sie sich respektvoll verhalten, hoffen sie, wird nichts passieren. "Befreie die Welt von den verirrten, von den bösen, den radikalen Muslimen!" – Amen! Amen!

Nach dem Gottesdienst geht niemand gleich. Es gibt noch salzige Hefeteigbrötchen, die die Frauen immer sonntags backen und Tee. Sie unterhalten sich, wie es war, wie es ist, wie sie hoffen, dass es sein wird. Als Hasan und Gundi geboren wurden, mussten sie auch bulgarische Namen bekommen: Nenko und Valentin. Die junge Generation heißt Johannes, Maria, Anna, Daniel. "Ich tue alles für meine Kinder", sagt Hasan. "Ich habe ein schweres Leben. Aber das ist egal. Meine Kinder sollen es gut haben." Er sieht, dass sie hier sein können wie andere, dass sie hier Chancen haben. Er glaubt fest daran. Alle glauben fest daran: Wenn sie sich anstrengen, wenn sie fleißig sind, wenn sie im Herzen gut sind und Gottes Pläne, den Menschen zu helfen gut umsetzen, dann werden sie irgendwann endlich dazu gehören und es besser haben.