Was verbindet Athen und Kassel? Der künstlerische Leiter Adam Szymczick fand die Antwort in gut humanistischer Tradition: "Von Athen lernen". Was vor nicht allzu langer Zeit nach Lehrplan für Altgriechisch- und Geschichtspennäler geklungen hätte – natürlich lernen wir von Athen, der Wiege unserer Demokratie, Schule der Philosophie und Kunst –, sollte für 2017 ein ungewöhnliches Motto sein. Der Titel war vor allem an die Politiker und Expertinnen aus Deutschland adressiert, die sich während der Schuldenkrise immer wieder bemüßigten, sich zum Schulmeister aufzuschwingen getreu der vielgehörten Phrase "Die Griechen müssen ihre Hausaufgaben machen." Diese Schularbeiten konnten jene aber in all den Jahren nie zur Zufriedenheit der Lehrenden lösen, selbst als die OECD keinem Land eine höhere Reformbereitschaft assistierte als Griechenland.
Documenta-Direktor Szymczyk hatte die Absicht, die neoliberalen Lehren und Vorurteile umzukehren und sie zum Thema des Prüfstands zu machen. Griechenland verkörpere die globale Situation. Ob diese Provokation aufgegangen und der Rollentausch geglückt ist, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.
Von Beginn an hatte die Weltausstellung aus Hessen einen schwierigen Stand in Griechenland. Das mochte auch daran liegen, dass deutsche Institutionen gerade recht dominant dort sind. Sei es durch die Übernahme des Hafens von Thessaloniki oder wegen der durch die Gläubigerinstitutionen auferlegten und damit weit unter Wert erzwungenen Privatisierung nahezu aller rentablen Flughäfen durch das Frankfurter Unternehmen Fraport, bei der aber die defizitären beim griechischen Staat verbleiben durften – für viele ein Sinnbild der "Griechenland-Hilfen" nach den Forderungen Wolfgang Schäubles. So wurde die solidarische Geste der documenta nicht verstanden, zu ungleich das derzeitige Verhältnis der Länder, zu neokolonial das empfundene Miteinander. Selbst der griechische Präsident Prokopis Pavlopoulos ließ bei seiner Eröffnungsrede am 7. April 2017 die asymmetrische Schieflage der europäischen Partnerstaaten anklingen und zitierte vor seinem Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier eine Passage aus Günter Grass' Griechenland-Gedicht "Europas Schande".
Der Ausstellungsschwerpunkt der Athener documenta auf die Geschichte indigener Bevölkerung wurde aber auch von den griechischen Künstlerinnen und Künstlern mit Identifikation der Kolonialisierten beantwortet, zumal Griechenland selbst keine eigene typisch koloniale Vergangenheit westlicher Prägung aufweist. Mit den Worten "Der Kolonialismus hat nie aufgehört", erläuterte die Leiterin des Athener documenta-Büros Marina Fokidis im Deutschlandfunk, welche Idee hinter der Namensgebung ihres Magazins "South as a state of mind" liege. Und damit meinte Fokidis auch die Stereotypen, die koloniale Strukturen begleiten und die zur Schuldenfinanzkrise plötzlich auch auf "schweinische Südländer" der europäischen PIGS-Staaten angewendet wurden, in regionaler Verirrung und mit Schreibfehler als PIIGS noch Irland inkludierend.
Die Antidocumenta-Graffitis aus dem Szeneviertel Exarchia griffen die Irritation, wieso den Räumen in Athen vor allem die Auseinandersetzung mit marginalisierten Völkern zugedacht wurde, entsprechend bissig auf: "Liebe documenta, ich verweigere mich der Exotisierung, um dein kulturelles Kapital zu erhöhen. Mit freundlichen Grüßen, Eure Indigenen".
Ausgerechnet zur Griechenlandkrise kam der ästhetische und andere Blick zu kurz. Der Euro und seine Folgen blieben genauso abstrakt und ohne Inszenierung wie die privaten Kreditgeber aus Frankfurt und Paris, die durch billige und faule Kredite die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb Europas forcierten, und dafür zwar Boni bekamen, aber keine Haftung übernehmen mussten. Wohlstandsblasen vor der Verschuldungssoap oder eine schwarze Null im Schafspelz, brisante Details und Bilder hätte es genug gegeben. Auch die Rolle der Gläubigerinstitutionen, ehemals Troika, die mit bedenklicher statt demokratischer Legitimation die Gesetzgebung der neuen europäischen Schuldnerstaaten bestimmen, stand nur ungenügend auf dem Lehrplan der documenta.
Die hohe symbolische Wirkkraft, die die Weltausstellung haben sollte, bekam für Skeptiker so den Anschein eines bloß kulturellen Alibis deutscher Politik. Dass am 10. Juni 2017, dem Eröffnungstag in Kassel und dem Jahrestag des SS-Massakers in Distomo, der griechischen Opfer der NS-Zeit weder von deutschen Politikern noch von Prominenz gedacht wurde, zeigt zudem, dass auch die Erinnerungskultur der Länder und ihr Verständnis dafür noch weit voneinander entfernt sind. Schließlich hatten die Nationalsozialisten in Griechenland durch hunderte sogenannter Sühnemaßnahmen gebrandschatzt, gemordet und circa 60.000 griechische Juden in die Vernichtungslager verschleppt.
Die Ausbeutung der griechischen Wirtschaft von 1941 bis 1944 war enorm und forderte weit über 100.000 Hungertote; deutsche Unternehmen aber profitierten nachhaltig von dem nicht nur auf Lebensmittel beschränkten Rohstoffraub. Dass die Beschimpfungen der "Pleitegriechen" seit 2010 dann auch noch den völkischen Bildern der nationalsozialistischen Besatzer bis in den Wortlaut gleichen, gibt trotz aller verständlicher Abwehrreflexe zu denken.
Nur ein Beispiel: Der elsässische NS-General und Massenmörder von LeSuire bezeichnete die Griechen als "Sauvolk" der "Nichtstuer, Schieber und Korrupteure". Mit diesen Phrasen spielte die BILD-Zeitung in verschiedenen Variationen. Als wäre das nicht genug, reaktivierten im Mai 2017, als wieder deutsche Wirtschaftsinteressen bei der Eurogruppe auf dem Spiel standen, FOCUS, aber auch FAZ das Trickser-Image, das auch unter den in Griechenland stationierten NS-Soldaten gang und gäbe war: "Die Griechen und der Taschenspielertrick". "Griechenland leide in keinster Weise unter seinen strengen Sparauflagen" werden mit fadenscheiniger Argumentation ein spanischer Professor und Hans-Werner Sinn zitiert.
Die Kuratoren der zeitgleich stattfindenden Biennale in Athen hatten wohl bereits geahnt, dass die Lerneffekte sich bei solchen Lehrern in Grenzen halten würden. So drehten sie das Motto der documenta einfach um nach einem Gedicht des neugriechischen Schriftstellers Kavafis: "Warten auf die Barbaren." Für das griechische Lebensgefühl schien diese Überschrift auch sehr viel treffender gewählt. Nicht weil die ausländischen Besucher etwa Barbaren wären, sondern weil die zeitgleich zur documenta beschlossenen Spar- und Reformpakete, nach den vergangenen sieben Jahren der Kürzungen und der Verarmung der Bevölkerung, noch mal besonders barbarisch wirken und deren Begleiterscheinungen sich noch zeigen werden; einige der Gesetze treten nämlich erst 2019 in Kraft.
Diese jüngsten "Maßnahmen" nivellieren mit ihren Deregulierungen zu Entlassungen und Sonntagshandel Arbeitsrechte wie religiöse Traditionen gleichermaßen, weshalb man von ihnen im tiefsten Kerneuropa auch lieber nichts wissen und lernen soll oder will und sie deshalb immer noch gern im Bündel als nötige Strukturmaßnahmen schönt. Wohl rein zufällig profitieren dabei wieder deutsche Unternehmen, wie zum Beispiel LIDL. Macht hat, wer nicht büffeln muss!
Die Griechinnen und Griechen aber werden bei all empfundener Ungerechtigkeit lernen müssen, nicht nur dem wirtschaftlichen Anpassungsdruck einer nicht enden wollenden Krise zu trotzen, sondern auch genau zu sein. Das Vorgehen der Geldgeber erscheint nur im westeuropäischen Rahmen außergewöhnlich brutal und unanständig. Wenn griechische Künstler wie auch die politische Linke vom "Kolonialismus in Athen" reden, klingt dies nach Polemik oder Selbsttäuschung. Die Reaktionen auf die thematische Schwerpunktsetzung der documenta-Ausstellungen werfen dennoch Fragen auf. Und das soll ja auch so sein. Denn wer zu früh die Antworten kennt, hört – von Athen – zu lernen auf.