Das Gespräch kommt immer wieder darauf. "Das Christentum ist eine Lüge", sagen Landsleute zu Pfarrer Alimamy Sesay. "Es ist keine Rettung, Christen haben uns unterdrückt." Viele, die aus Sierra Leone weggegangen sind, leben gut, aber was das Thema angeht, sind sie verbittert, enttäuscht und schotten sich ab. Ihre Erfahrung hat sie dazu gebracht, den Glauben zu hassen. "Aber ohne Glaube ist der Mensch leer", sagt Sesay.
Umso wunderlicher scheint der Gottesdienst in der Neuköllner Magdalenen Kirche. Oder er erklärt alles. "Are you happy?", ruft Sesay euphorisch in bester afrochristlicher Tradition in den Raum und alle johlen zurück. "Yeah! Amen! Amen!" (Sie rufen es englisch: "Äimän"). Und wer glücklich ist, darf aufstehen und Gott ehren, indem er tanzt und singt, die Hände hebt und klatscht. Den Frohsinn bei Gott und Jesus finden, das ist für viele aus Sierra Leone eine ganz schön große Aufgabe gewesen, sogar für Pfarrer Sesay – und für manche ist sie es immer noch.
Ihre Geschichte erzählt von Sklaverei und Kampf
Geflüchtete tragen die Geschichte ihres Landes in sich, mehr als andere. Aus Sierra Leone mussten viele fliehen. Die Geschichte des Landes erzählt von Sklaverei, Unterdrückung und Kampf. Die Kolonialherren, Schlepper und Ausbeuter waren Christen. Und europäische Christen haben viel später noch bestimmt, wer welche Chancen bekam. In dem Dorf, in dem Sesay aufgewachsen ist, waren Katholiken zugange, sie betrieben eine Schule für alle. Zumindest für alle, die katholisch waren. Dann zog Sesays Familie um. Neues Dorf, neue Schule. Diesmal eine evangelische...
"Ihr habt keine anständige Sprache", sagten die Christen den Dorfbewohnern – im Land werden je nach Definition 13 bis 16 Sprachen gesprochen. Die Dorfkinder aber lernten, die Bibel auf Englisch zu lesen. "Das ist nur eine Variante von vielen ähnlichen Erfahrungen", sagt Sesay. Er entdeckte irgendwann, dass die Bibel schon etwa 1700 in seine Sprache, Temne, übersetzt worden war. Er hasste die Kirche. "Ich war rebellisch", sagt er. "Ich ging gar nicht mehr hin."
"Ich war es gewöhnt, mit Jesus zu reden"
Teil Zwei der Geschichte des Neuköllner UBC-Church-Ablegers. Mit ihm beginnt und schließt sich gewissermaßen der Kreis der sierra-leonischen Gemeinde. Die United Brethren Church entstand etwa 1800, gegründet von zwei deutschen Auswanderern unterschiedlicher evangelisch-protestantischer Glaubensprägungen. Die ersten Gottesdienste fanden in Pennsylvania in den Farmhäusern der deutschen Auswanderer statt – auf Deutsch. Bis die nächste Generation keinen Bezug mehr zu der Sprache hatte. Heute ist es umgekehrt. "Onkel, weißt du, euer Englisch gefällt uns nicht mehr", sagen die Jungen zu Sesay.
Mit der Zeit fand die UBC-Church weltweit Anhänger, auch in Sierra Leone. Aber da hatte Sesay noch nichts mit ihr zu schaffen. Er ging nach England, um zu studieren. Er wollte Wissen nach Sierra Leone bringen, das Land unterstützen. Als Flugzeugbauer, also studierte er Ingenieurwesen. Zurück in Sierra Leone stellte er fest: Die Wirtschaft war so klein, da ging es noch lange nicht um Flugzeuge. Stattdessen begann Mitte der 1980er in dem gerade unabhängig gewordenen Land ein Bürgerkrieg. Sesay verschlug es nach Berlin. Diesmal: Philosophie, Psychologie, Sozialwissenschaften. Nichts mit Kirche. Nur der Glaube, der war tief drin. "Ich war es gewöhnt, mit Jesus zu reden", sagt er.
Ein anderer aus Sierra Leone geflüchteter Pfarrer brachte die Glaubensgemeinschaft zusammen: Eric Mustafa. Er begeisterte Sesay, er trommelte die Berliner Sierra-Leoner zusammen, viele von ihnen. Das war 1997.
Seitdem treffen sie sich und beten gemeinsam. Vor dem Gottesdienst begrüßen sie sich in herzlichen Umarmungen, oder drücken einfach still und fest die Hände und lächeln dabei. Tausende Kilometer weit weg, zählen die Zwistigkeiten zwischen den Volksgruppen nichts. Alle sind aus dem gleichen Grund hierher geflohen. Der Gottesdienst ist auf Englisch. "Wir kommen aus allen Ecken Sierra Leones", sagt Sesay. "Jeder spricht eine andere Sprache. Englisch können alle". Hier geht es um Jesus. Gemeinsam suchen sie nach der Befreiung in der Bibel. "Wir erobern uns die Bibel zurück. Sie bereichert uns", sagt Sesay. "Wir tauchen tief hinein."
Ins Alte Testament genauso wie ins Neue. "Das Alte Testament ist die Prophezeiung, das Neue die Verwirklichung", sagt Sesay. "Wenn man auf eins verzichtet, hat man das Christentum verpasst!" Aus dem Ingenieur, dem Studenten, dem Sozialarbeiter ist nun ein Pfarrer geworden. "Wie heilt man einen Menschen, den eine Schlange gebissen hat?", sagt er. "Man gibt ihm das Gift der Schlange, präpariert."
Austehen und sich bewegen
Zum Gottesdienst kommen sie herausgeputzt, viele Frauen mit farbenfrohen Tüchern umwunden, die älteren Herren in Anzügen: Stoffhosen mit Bügelfalte, Stoffsakkos, flache Hüte, runde Hüte. Manche sehr still, sehr schüchtern, am Stock. Die jüngeren im Sakko. "Bei dir bin ich frei", singen sie. Bei "Glory Lord" öffnen sie die Hände nach oben, die Augen der Alten glänzen. Die jüngeren klatschen zustimmend, "Amen" ("Äimän") rufen sie. Der Gottesdienst ist auf Englisch. Viele Lieder singen sie auch in den Landessprachen. Nach dem zweiten Lied, gelöstes Lachen.
Wer gesund werden will und zufrieden, wer es wieder gut haben will, der muss aufstehen und sich bewegen. Wer sich bewegt und arbeitet, der ist erfolgreich. "Wir haben gelernt, dass es bequem macht, auf Voraussagen zu hören, auf das Schicksal zu warten. Bequemlichkeit tut nicht gut", sagt Sesay. "Und Gott ist auch nicht faul. Seit 6000 Jahren arbeitet er jeden Tag."
Wenn wieder Landsmänner oder -frauen wütend auf den Glauben sind, sagt er: "Verwechselt das nicht. Das Christentum ist so gut, so nützlich und ungefährlich wie Papier. Aber schlechte Menschen können sogar mit Papier verletzen. Das Christentum selbst ist keine Sklaverei."