Wie Tischtennisbälle, die auf dem Sandsteingeländer der Empore auf und nieder hüpfen, erklingen die ersten Töne der d-Moll-Toccata von Johann Sebastian Bach. Darauf folgt eine Pause. Still ist es jedoch nicht im Dom St. Marien zu Freiberg. Die Töne aus der Großen Silbermannorgel hallen nach. Domorganist Albrecht Koch verharrt kurz, beugt sich nach hinten und schaut hinauf, als ob ihm die Orgel etwas zu sagen habe. Er spielt weiter. Das Stück nimmt an Tempo auf, schneller und schneller, bis es in einem vollen Akkord mündet, der noch im hintersten Winkel der Kirche zu spüren ist. Es gibt Musik, die hören wir nicht nur mit den Ohren. Wir saugen sie auf wie ein Schwamm das Wasser; mit allen Sinneszellen. Dann fühlen wir uns wohl, staunen im besten Fall. Wenn Musik das bewirken kann, gehen ihr oft drei kausale Dinge voraus: Klang, Raum und Technik.
Dem Orgelbaumeister Gottfried Silbermann ist das hier vor 300 Jahren offenbar in einzigartiger Weise gelungen. Darin sind sich Kirchenmusiker und Orgelbauer weltweit einig. Im sächsischen Freiberg baute er eine Barockorgel, die mit ihrem Klangkonzept zu den bedeutendsten Instrumenten dieser Art und aus dieser Zeit zählt: 2674 klingende Pfeifen, 44 Register und drei Manuale.
"Und das Besondere ist, dass sie nahezu noch original hier steht, wie Silbermann sie einst verlassen hat", sagt Albrecht Koch. Der Baumeister selbst habe 1738 die Orgel minimal umdisponiert und zwei Register verändert. Ansonsten sei bis heute keine grundlegende Veränderung an dem Instrument vorgenommen worden. Sogar der barocke, schmiedeeiserne Schlüssel zum originalen hölzernen Orgelchor ist historisch. So fühlt sich der Besuch auf der Orgelempore beinahe wie eine Zeitreise an; als ob Gottfried Silbermann selbst jeden Moment um die Ecke kommen könnte. Keine moderne Schließanlage schützt das Instrument, das andernorts womöglich in einem Museum hinter Glas stehen würde.
"Das mag vielleicht altmodisch wirken, aber die Orgel ist vor allem ein liturgisches Instrument und wurde für den Gottesdienst geschaffen", erklärt der Organist. Sie lediglich anzuschauen oder ausschließlich für Konzerte zu nutzen, sei für sein Empfinden zu wenig. Und so erklingt die große Silbermannorgel im Freiberger Dom immer sonntags und begleitet den Gesang der Kirchengemeinde. "Mich erfüllt es, wenn wir einen schönen Gottesdienst in vollendeter Form zelebrieren", macht er deutlich. Die evangelischen Christen könnten hierbei manchmal von den Katholiken lernen.
Dass er sich tatsächlich in gewisser Weise beim Spielen mit der Orgel unterhält, erklärt Albrecht Koch wie folgt: "Ich muss sehr aufmerksam sein und auf das Instrument hören, denn historische Orgeln lassen sich zuweilen ein wenig sperrig spielen." Sich spontan hinsetzen und spielen, das funktioniere oft nicht. Die Orgel vermittle ihm, was geht und was nicht. Der 1976 in Dresden geborene Kirchenmusiker ist seit 2008 Domkantor und Organist in Freiberg. Dass ihm dieses wertvolle Instrument anvertraut wurde, empfindet er als Ehre. Zugleich sei damit aber auch ein öffentlicher Druck verbunden, wie er verrät. Denn Kirchenmusiker aus der ganzen Welt schauen auf diese bedeutende Orgel.
Doch was ist eigentlich derart außergewöhnlich an diesem Klang? "Gottfried Silbermann beherrschte sein Handwerk wie kein anderer", erklärt Koch. Er habe oft detailverliebt solange an einer Pfeife gelötet und geschliffen, bis der Ton für seine Ohren optimal stimmte. Kraftvoll, voluminös, klare Töne mit großer Strahlkraft, ein ausgeprägtes Fundament in den hohen Tönen: so beschreiben Experten den Klang. Damit habe Silbermann Maßstäbe gesetzt, die bis in die Gegenwart hinein wirkten. Seine Arbeit galt seinerzeit als technisch progressiv, doch klanglich als eher konservativ.
Die Große Domorgel in Freiberg, etwa 11,25 Meter hoch, sei die Einzige, die sowohl ein mitteldeutsches als auch ein französisches Klangprofil habe. Denn Gottfried Silbermann, der 1683 in Kleinbobritzsch geboren und in Frauenstein im Erzgebirge aufgewachsen ist, machte seine Ausbildung zum Orgelbauer in Straßburg. Dort lernte er bei seinem Bruder Andreas Silbermann, der ebenfalls Orgelbauer war. In Straßburg arbeiteten die Brüder mehrere Jahre zusammen, bis Gottfried 1710 nach Sachsen zurückkehrte. Er war erst 27 Jahre alt, als er den Auftrag für den Bau der Freiberger Domorgel erhielt, die er 1714 fertig stellte. Später wurde ihm der Titel "Hof- und Landorgelbauer" verliehen.
Durch die handwerkliche Qualität und die hochwertigen Materialen, die er verwendete, seien viele seiner Instrumente bis heute erhalten geblieben. Allein in Sachsen existieren noch 32 Silbermannorgeln. Nach der Orgel in der katholischen Hofkirche in Dresden ist jene in Freiberg die zweitgrößte erhaltene Orgel von Gottfried Silbermann.
Sie ist eine klassische mechanische Schleifladenorgel. Die Windversorgung erfolgt über sechs Keilbälge, die sowohl elektrisch als auch traditionell per Fuß betrieben werden können. Anfang der 1980er Jahre wurde das Instrument grundlegend restauriert, 2010 noch einmal generalüberholt.
Durch die außergewöhnliche Bedeutung dieser Orgel hat die Kirchenmusik in Freiberg eine lange Tradition. So erklingt sie beispielsweise seit fast 80 Jahren jeweils von Mai bis Oktober immer donnerstags zu den Freiberger Abendmusiken. Diese Tradition wurde 1939 begründet und weder durch den Zweiten Weltkrieg noch durch die DDR-Zeit nennenswert unterbrochen. Des Weiteren finden hier in der Region seit 1978 regelmäßig die Silbermann-Tage mit Konzerten und dem Internationalen Gottfried-Silbermann-Orgelwettbewerb statt, an dem junge Organisten aus der ganzen Welt teilnehmen. Im Mittelpunkt stehen immer die originalen historischen Instrumente des Orgelbaumeisters. Schirmherr ist jeweils der sächsische Ministerpräsident.
"Ich bin immer auf der Suche nach dem authentischen Klang", beschreibt es Albrecht Koch. Dass heißt: historische Instrumente sind ideal für Musik aus der Epoche, in der sie gebaut wurden. Manche Tonarten ließen sich darauf zwar nicht spielen, aber auf diese Weise könne die Entwicklung der Kirchenmusik nachvollzogen werden. In der Freiberger Domorgel zum Beispiel sei der Klang des 17. Jahrhunderts – von 1650 bis 1720 – konserviert. Und so zieht es Albrecht Koch, wenn er auf Konzertreisen im In- und Ausland ist, oft schnell wieder nach Hause: "Weil ich hier in Freiberg so ein wunderbares Instrument stehen habe."