Wenn an der griechischen Küste Flüchtlingsboote ankommen, ist das eine gute Nachricht. Es bedeutet, die Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, haben die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer mit Schlauchbooten überlebt. Für Nora Azzaoui haben die gestrandeten Boote auf der griechischen Insel Chios noch einen Effekt: Aus dem Gummi der Boote stellt sie in einem Berliner Start-up Taschen her. Sie vereint mit ihrer Arbeit Schneider und Designer aus mehreren Nationen in Berlin. Inzwischen arbeiten in dem Unternehmen "mimycri" fünf feste Mitarbeiter aus Syrien, Pakistan, Spanien, der Türkei und Deutschland.
Im Dezember 2015 hat Nora Azzaoui an der Küste von Chios nachts den ankommenden Flüchtlingen geholfen. "Wir haben die Menschen mit trockener Kleidung versorgt und sie zu einem Arzt gebracht, falls das nötig war", sagt die 30-Jährige Unternehmensberaterin. Irgendwann habe sie dann wahrgenommen, wie viele Klamotten, Rettungswesten und Müll am Strand liegen. "Wir haben dort von Spendengeldern billige Klamotten gekauft, statt mit dem zu arbeiten, was da ist. Da liegen Berge von Schrott, der einfach verbrannt wird, die Boote verwahrlosen da."
So sei die Idee entstanden, etwas Nachhaltiges zu produzieren. "Ich habe zusammen mit einem befreundeten Designer versucht, aus der Gummiplane der Boote etwas zu schneidern", erklärt sie. Der Versuch war geglückt, eine Schweizer Kirche bezahlte im April 2016 die erste Lieferung von 400 Kilo Gummiplanen von Griechenland nach Deutschland. Danach bewarb sich Nora Azzaoui mit einer Geschäftspartnerin um Förderprogramme. Seitdem habe man ein klares Ziel vor Augen und inzwischen hat das Berliner Unternehmen etwa 600 Bestellungen für Taschen, Rucksäcke und andere Produkte aus überwiegend recyceltem Material, an denen das Team arbeitet.
"Wir machen aber keine Taschen, weil die Welt mehr Taschen braucht." Stattdessen sei der Gedanke, Menschen zusammenzubringen, essenziell. "Wir suchen explizit nach Menschen, die es schwer haben, Arbeit zu finden oder in ein Projekt einbezogen zu werden", sagt sie. Genug Gewinn für ein regelmäßiges Gehalt wirft das kleine Unternehmen nach eigenen Angaben bisher nicht ab, aber "das ist glaube ich bei keinem Start-up in den ersten Jahren der Fall", sagt Azzaoui. Bisher bekomme keiner der Mitarbeiter und Freiwilligen regelmäßig Gehalt, die 30-Jährige hofft, dass sich das in Zukunft ändern werde.
Einer der Mitarbeiter von "mimycri" ist Abid Ali. Der 35-Jährige ist aus Pakistan nach Deutschland geflohen. Seine Mutter und seine Schwester musste er in Pakistan zurücklassen. Er kam über Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich und München bis nach Berlin. Hier lebt er seit 2015. Als er ankommt, schläft er 40 Nächte bei Minusgraden vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, der Behörde, vor der viele Flüchtlinge zu der Zeit strandeten, wenn sie Berlin erreichten. Inzwischen hat er einen Platz in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft bekommen.
Über die Situation in Pakistan und die Reise nach Deutschland möchte er nichts erzählen. "Ich bin jetzt froh, hier zu sein", sagt er. Einen Zukunftsplan habe er im Moment nicht, er lebt im hier und jetzt. "In Pakistan war Textil meine große Liebe", sagt er. Er hat 22 Jahre Erfahrung in der Textilbranche und unterstützt "mimycri" als Schneider.
"Bei mimycri treiben mich drei Aspekte an", sagt Azzaoui. "Lasst uns das verwenden, was schon da ist, lasst uns Integration vorantreiben und vor allem darauf aufmerksam machen, dass immer noch jeden Tag Menschen an den Küsten stranden." Es gehe bei "mimycri" darum, die Perspektive zu wechseln - "Dinge sind nicht immer, was sie auf den ersten Blick scheinen". In der Biologie bezeichnet "mimycri" eine Form der Tarnung. Tiere und Pflanzen täuschen optisch vor, gefährlich zu sein, sind es aber nicht. Sie schützen sich damit vor Fressfeinden. So werden in Berlin aus Booten Taschen und aus Begegnungen mit Fremden dauerhafte Verbindungen.