Helfen, wenn Menschen in eine Krise geraten, das ist ein urchristliches Anliegen. Aber auch eine staatliche Aufgabe, betont Michael Bourgeon, der Leiter des Evangelischen Zentrums für Beratung und Therapie in Frankfurt. Auf die dort angesiedelte Erziehungsberatung gibt es einen Rechtsanspruch, sie wird auch überwiegend von der Stadt Frankfurt finanziert. Doch deutlich anders sieht es bei der Paar- und Lebensberatung für Erwachsene aus, für die es keinerlei Kostenträger gibt. Die katholische Caritas ist in Frankfurt bereits ausgestiegen. Noch hält der evangelische Regionalverband seine Beratung aufrecht. "Wir sind unserem Selbstverständnis nach offen, unabhängig von Kultur, Ethnie oder Religion", betont Bourgeon. Deswegen werden Religionszugehörigkeiten auch gar nicht abgefragt. Die Paar- und Lebensberatung ist "ein Angebot, das eine Lücke füllt", sagt Fachbereichsleiterin Vera Dietl-Krüger.
Diese Lücke ist ziemlich groß, denn sie und ihre beiden Kollegen sind für die psychologische Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) in ganz Frankfurt und Umgebung zuständig. Die nächsten Beratungsstellen sind dann erst wieder in Gießen, Dietzenbach und Wiesbaden. Dazu kommt, dass ihre Stelle noch einen Sonderauftrag hat und die außergerichtliche Einigung "hocheskalierter Eltern" betreuen soll. "Bedarfsdeckend zu sein war nie unser Auftrag", betont Dietl-Krüger denn auch, es handele sich um ein freiwilliges Angebot. Eines, das nicht öffentlich finanziert wird, denn auch die Krankenkassen zahlen keine Paarberatung. Auch wenn sie dringend nötig wäre.
Ein bunter Strauss an Problemen
Die Leiterin nennt drei exemplarische Beispiele ihrer Arbeit. Da ist das junge Paar, wo einer Kinder und Familie möchte, der andere nicht. In den Beratungen habe sich schließlich herausgestellt, dass beide ihre Beziehung für tragfähig genug halten und sich für die Schwangerschaft entschieden haben. "Später haben wir dann die Geburtsanzeige bekommen", erinnert sich Dietl-Krüger.
Doch nicht immer läuft es so harmonisch ab. Bei einem anderen Paar blieb es dabei: einer wollte, der andere nicht. Eine Entscheidung, bei der es keine Kompromisse gibt. Kompliziert war auch die Beratung einer jungen Frau türkischer Herkunft, die in Frankfurt aufgewachsen ist. Der türkische Mann und die künftige Schwiegermutter wollten, dass sie im Haushalt die traditionelle Geschlechterrolle annehme. Die junge Frau wollte unabhängig bleiben, "wir haben sie dabei unterstützt, aber irgendwann ist sie weggeblieben", berichtet Dietl-Krüger. Vielleicht habe sie gedacht, es sei der bessere Weg, die neue Familie anzunehmen, meint sie ganz wertneutral.
Im vergangenen Jahr hatte die Stelle 300 Beratungsprozesse laufen, betreute insgesamt 460 Personen, berichtet die Leiterin. Ein Drittel der Beratungen ist mit dem Erstgespräch abgedeckt – auch, weil an Fachstellen weiterverwiesen wird. Ansonsten können schon zehn bis 20 Termine zusammenkommen. Bei nur zwei Mitarbeitern führt das dazu, dass schon im Juli ein Anmeldestopp ausgesprochen werden muss. Und doch kommen immer mehr Hilfesuchenden, mittlerweile sind darunter auch viele über 60-Jährige, "das sind für uns neue Themen: einer geht in Rente, was verändert sich?" Auch die Scheidungsrate steige in diesem Lebensabschnitt nochmals an. Weil Frankfurt eine Stadt mit starkem Zuzug ist, kommen auch viele Singles und junge Paare, teilweise aus unterschiedlichsten Kulturen, wie ein chinesisch-türkisches Paar, aber auch junge Familien, die das Leben in der teuren Metropole "nicht gebacken bekommen", so die Leiterin. Schwerpunkte in der Beratung gebe es aber nicht nur einen, sondern viele, von der Streitkultur bei Paaren über Probleme mit der Sexualität bis hin zum Loch, in das Eltern nach dem Auszug der Kinder fallen. Auch bei Burnout oder Krebs gebe es nicht nur medizinische Probleme und gerade beim Erleben von Sterben und Tod stelle sich dann auch die Sinnfrage, die Dietl-Krüger schließlich doch noch zu den religiösen Themen bringt.
Die Motivation der Ratsuchenden komme aber nicht nur wegen des kostenlosen Angebots, betont Dietl-Krüger. "Wir bekommen einen Vertrauensvorschuss, die Kirche ist ein Markenzeichen", sagt sie. An einen Stellenausbau sei dennoch nicht zu denken, "wir sind froh, wenn das Angebot gehalten werden kann", so Dietl-Krüger. Dabei ist die psychologische Beratungsstelle bewusst "wenig präsent in der Stadt, es gibt keine Aktivitäten nach draußen, kein Kinderfest, keinen Tag der offenen Tür". Es sei eben "ein Angebot, das mit geringem Aufwand betrieben wird", sagt Dietl-Krüger bedauernd. Aber auch eines, bei dem die Kirche als soziale Marke deutlich mehr punkten könnte.
Schließlich heißt es auch in der Beschreibung des Arbeitsbereiches "Psychologische Beratung in evangelischer Trägerschaft", sie trage dazu bei, "dem Evangelium von der Zuwendung Gottes zu den Menschen und seiner Güte Ausdruck zu verleihen". Allerdings steht in der Beschreibung auch: "Eine integrierte Beratungsstelle in kirchlich-diakonischer Trägerschaft darf nur bis maximal 50 Prozent des Gesamthaushalts aus kirchlichen Finanzmitteln finanziert werden; dabei wird davon ausgegangen, dass der Bereich Erziehungsberatung weitgehend öffentlich finanziert wird." Derzeit gibt es in der EKHN 16 psychologische Beratungsstellen, davon zwei in Trägerschaft von Vereinen der Diakonie. Es gibt dort 88 Mitarbeiter auf 61 Vollzeitstellen, dazu kommen zwölf Stellen in der Verwaltung. In der EKHN gibt es 15 meist integrierte Erziehungs-, Paar- Familien- und Lebensberatungsstellen mit jährlich 15.000 Ratsuchenden.
Fast die Hälfte aller Eltern bittet von selbst um Hilfe
Die katholische Caritas beschränkt sich in Frankfurt auf die Eltern- und Jugendberatung nach dem Sozialgesetzbuch acht, Kinder- und Jugendhilfe, berichtet Michael Kraus, der die Beratung in der Frankfurter Nordweststadt leitet. Die Aufgabenverteilung ist Ländersache: im benachbarten Rheinland-Pfalz wird die Erziehungsberatung getrennt vergeben, in Hessen liegt alles in einer Hand. In Frankfurt sind 14 Träger in der Erziehungsberatung tätig, davon je zwei von der Diakonie und der Caritas. Bezahlt wird die Beratung zum Großteil von der Stadt Frankfurt, sagt Kraus. Das bedeutet auch, dass seine fünf Berater "genau aufpassen müssen, nicht missionarisch zu wirken".
Dass bei den Hilfesuchenden überhaupt keine konfessionelle Einschränkung gemacht werde, sei aber nicht nur dem staatlichen Auftrag geschuldet, "es würde auch unserem christlichen Auftrag widersprechen", sagt der Leiter. Zudem wird die Religionszugehörigkeit gar nicht erst erfasst, denn es geht um ganz andere Themen: um alles, was mit der Erziehung zu tun hat, von Schlafproblemen bei Säuglingen über Verhaltensauffälligkeiten in der Schule bis zum Auszug von Zuhause. Was die Beratung leichter macht, ist der Umstand, dass immerhin 45 Prozent der Eltern aus eigenem Interesse um Beratung bitten. "Aber wir sind auch gut vernetzt mit Schulen und Kitas".
Doch es gibt auch Veränderungen, hat Kraus beobachtet. "Zugenommen haben die Auseinandersetzungen von Eltern, die Konflikte werden immer häufiger in ganz heftiger Art ausgetragen." Auch Schulprobleme bekommen mehr Gewicht, "es gibt die Sorge um den sozialen Aufstieg", merkt Kraus an. In der Nordweststadt gab es im vergangenen Jahr 176 neue Fälle, derzeit werden 329 Familien betreut. Im Durchschnitt genügen sechs bis sieben Gespräche. Noch reiche die Kapazität der Beratungsstelle aus, "aber wir müssen schon genau hinschauen", sagt Kraus. Geht es um psychologische Probleme, um Schulden oder Sucht, verweist er an andere Stellen.
"Können Sie beten?"
Dennoch bleibt der christliche Ansatz nicht ganz außen vor. Die Berater hätten eine ausgeprägte Sensibilität, um herauszuhören, ob hinter den aktuellen Sorgen auch tiefer gehende Fragen stecken: Schuld, der Sinn des Lebens, Schicksalsschläge, Trauer, Verlust, das seien Stichworte, um nachzuhaken, sagt Kraus: "Ich frage dann: ,Können Sie beten?‘". Dann könne man weitergehen und "sachlich-nüchtern" ausloten: "Woher schöpfe ich meine Kraft?" Aber, und das betont er nochmals, es dürfe nicht um ein Werben für den Glauben gehen, "dann kämen wir in eine schwierige Situation mit unserem Auftraggeber." Auch wenn das Leitbild für seine Mitarbeiter klar sei: "Das Evangelium Jesu Christi, das Engagement für die Schwachen".
Im Bistum Limburg gibt es zwar eine AG der psychologischen Beratungsstellen, aber "das Budget ist über Jahre stagnierend", so Kraus. Und es wird an die Caritas übertragen, die es intern verteilt. Aber es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Inhalte und Strukturen. Über die Dachverbände der Beratungsstellen und die Kommission der Bischofskonferenzen werden die Bedürfnisse der Ratsuchenden rückgemeldet, insbesondere zu den Themen "Schuld, Trennung, Scheidung", so Kraus: "Langsam wird es wahrgenommen".
Kraus hat auch eine klare Meinung zu der aktuellen Debatte darüber, ob die Kirchen über immer neue Spezialangebote und Themen ihre Basis verlieren. "Ich wünsche mir, dass die Kirche nie die Menschen und ihren Alltag vor Ort aus dem Auge verliert", meint er. Spezielle Angebote und spezielle Botschaften könnten nicht das ersetzen, was den Alltag ausmache. So müsse die Frage zunächst lauten: "Was bewegt die Leute vor Ort?" Das habe die Frankfurter St. Sebastian-Gemeinde schon 1966 so gesehen, als sie sich beim Bau der Nordweststadt entschied, dort nicht nur ein seelsorgerisches Angebot, sondern auch eine Ehe- und Mütterberatung anzusiedeln, weil dort vor allem junge Familien einzogen, erinnert sich Kraus.