Petra Hehmann fährt sanft mit den Fingern über die Oberfläche der Theke und ist kurz irritiert. Was auf den ersten Blick wie ein edler Stein aussieht, fühlt sich bei der Berührung eher wie Kunststoff an. Hehmann mag es trotzdem. "Gut fühlt sich das an", sagt die Kunstinteressierte aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Die Theke steht nicht in einer Kneipe, sondern nur ein paar hundert Meter entfernt vom LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster. Die begehbare Skulptur des Künstlerinnen-Duos "Peles Empire" ist Teil der internationalen Ausstellung "Skulptur Projekte Münster", die alle zehn Jahre den Blick auf moderne Kunst im öffentlichen Raum richtet.
Während der Laufzeit der Open-Air-Ausstellung bietet der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) mit Sitz in Münster bis 1. Oktober spezielle Rundgänge für Menschen mit Handicap oder psychischen Erkrankungen an. Es gibt inklusive Touren in Leichter Sprache, in Gebärdensprache, barrierefrei für Rollstuhlfahrer und solche, die auf das Ertasten der Objekte ausgerichtet sind, damit auch blinde und sehbehinderte Menschen die Kunstwerke wahrnehmen können. Auch eigens für die "Skulptur Projekte" eingespielte Musik können sie sich anhören. Geschulte Kräfte begleiten die zweistündigen Kunst-Erkundungen.
Jede Tour beginnt am Landeskunstmuseum in der Innenstadt von Münster und konzentriert sich auf fünf bis sechs ausgewählte Kunstwerke in fußläufiger Nähe. "Wir haben uns bei der Konzeption bemüht, auf alle Bedürfnisse und Arten von Behinderung einzugehen, damit jeder bei den Skulptur Projekten dabei sein kann", erklärt Andrea Volmering von der LWL-Pressestelle.
Die Rundgänge unterscheiden sich von den üblichen Kunstführungen, bei denen einer vorangeht, die Werke erläutert und meist allein redet. Dialog sei erwünscht, sagt Kunsthistorikerin Stephanie Sczepanek vom LWL-Museum. "Jeder kann Fragen stellen und sich zu seinen Eindrücken äußern", fordert sie die sieben Teilnehmer auf, die sonst in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen der Westfalenfleiß GmbH in Münster arbeiten.
Das Objekt des "Peles Empire"-Duos Katharina Stöver und Barbara Wolff, das den schlichten Titel "Skulptur" trägt, beschreibt Sczepanek kurz und mit einfachen Worten. "Es sieht wie ein Haus aus", sagt sie. "Darauf ist ein Bild, das ein Schloss zeigt. Das Schloss steht in Rumänien." Dann kommt sie auf den Giebel zu sprechen, der nur eine Attrappe ist und an die früheren Häuser vom Prinzipalmarkt in Münster erinnern soll. Sie wurden während des Zweiten Weltkrieges zerstört und nach 1945 wiederaufgebaut.
Die Kunstvermittlerin regt die kleine Gruppe an, die Skulptur zu ertasten. Annemarie Drerup, die seit ihrer Kindheit erblindet und auf einen Assistenten angewiesen ist, fährt mit der Hand über die Fassade. "Die Kacheln sind schön", sagt die 58-Jährige. "Ich ertaste Puzzleteile, die sich wie ein Gebäude zusammensetzen könnten. Ich könnte mir vorstellen, dass es Marmor darstellen soll." Damit beschreibt sie auch die Idee der beiden Berliner Künstlerinnen. "Die Farben der Skulptur sind schwarz-weiß gehalten, weil sie der Farbe von Marmor ähneln sollen", erklärt Kunsthistorikerin Sczepanek.
Eine weitere Station ist Michael Deans "Tender Tender" im Lichthof des LWL-Museums für Kunst und Kultur. Hier wird die Gruppe mit einem chaotisch wirkenden Durcheinander aus Steinen, Stangen, Plastiktüten, beschriebenen Blättern und angedeuteten Schriftzeichen konfrontiert. Aus einem kaktusähnlichen Beton-Gebilde wachsen Kinderfäuste. Petra Hehmann legt ihre Hand um eine der kleinen Fäuste, um die im Titel angedeutet Zärtlichkeit zu erfahren. Dass sich das Objekt als Ganzes nicht so leicht interpretieren lässt, ist für sie kein Problem. "Wenn man Kunst versteht, wird sie langweilig", kommentiert Hehmann.