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TV-Tipp: "Tatort: Rattennest" (RBB)
3.7., RBB, 22.15 Uhr: "Tatort: Rattennest"
"Rattennest" war Georges Debüt in der Sonntagskrimireihe, allerdings auf der anderen Seite des Gesetzes. Die Einführung der Figur ist ähnlich prägnant wie seine erste Schimanski-Szene: Jerry ist ein in jeder Hinsicht aufgeblasener junger Mann, ein echter Möchtegern.

Im Rahmen einer "Tatort Classics" genannten Reihe zeigt der RBB restaurierte Fassungen der frühen "Tatort"-Episoden des einstigen Sender Freies Berlin. Der erste Beitrag, "Der Boss" (1971), erinnerte eher an eine soziologische Studie als an einen Krimi und war sichtbar in der Tradition des klassischen Fernsehspiels verwurzelt. Mit "Rattennest" war der SFB dagegen auf der Höhe der Zeit: Der Film hätte auch im Kino laufen können. Regisseur Günter Gräwert konnte zudem mit einem echten Filmstar arbeiten, selbst wenn Götz Georges Ruhm aus den Karl-May-Western der Sechzigerjahre bereits etwas verblasst war: Weil die jungen Regisseure des Neuen Deutschen Films mit ihm als Repräsentanten von "Papas Kino", das sie für tot erklärt hatten, nichts anfangen konnten oder wollten, war seine Kinokarriere beendet. Also arbeitete er wie viele andere Filmschaffende fortan überwiegend fürs sogenannte Pantoffelkino; neun Jahre später wurde er als Duisburger "Tatort"-Kommissar Schimanski einer der größten deutschen Fernsehstars.

"Rattennest" war Georges Debüt in der Sonntagskrimireihe, allerdings auf der anderen Seite des Gesetzes. Die Einführung der Figur ist ähnlich prägnant wie seine erste Schimanski-Szene: Jerry ist ein in jeder Hinsicht aufgeblasener junger Mann, ein echter Möchtegern. Regisseur Gräwert zeigt ihn mit nacktem Oberkörper beim Hanteltraining; als die Kumpane eintreffen, präsentiert er ihnen stolz seine Muskeln. Um den Hals trägt er eine schwere Goldkette, die Koteletten sind ebenso sorgsam gestaltet wie der Oberlippenbart. Damals dürften die meisten Zuschauer auf Anhieb erkannt haben, wer Jerrys Vorbild war. Für alle anderen verweist der Film gegen Ende, als der eitle Ganove längst derangiert worden ist, beiläufig auf ein Foto am Spiegel: Peter Wyngarde, Star der britischen Krimiserie "Department S.", prägte damals mit seiner Rolle des stets paradiesvogelartig gekleideten Jason King einen ganz eigenen Stil. Auch das musikalische Leitmotiv ist eine Anleihe: Wann immer Jerry und seine Freunde – die Bande verdient ihren Lebensunterhalt durch Zuhälterei, Schutzgelderpressungen und Überfälle auf Berlintouristen -  mit ihrem imposanten Oldsmobile über die Boulevards Berlins cruisen, erklingt Isaac Hayes’ berühmte Titelmelodie aus "Shaft"; der Krimi über den gleichnamigen schwarzen New Yorker Detektiv war im Jahr zuvor in den Kinos gelaufen. Wes Geistes Kind Jerry wirklich ist, verdeutlicht eine venezianische Gondel; das unverzichtbare Accessoire jedes kleinbürgerlichen Haushalts zierte seltsamerweise stets den Fernseher.

Jerry spielt seinen letzten Trumpf

Die Story von "Rattennest" (das Drehbuch ist von Johannes Hendrich, der auch "Der Boss" geschrieben hat) beginnt mit einer Haftentlassung: Bernd Laschke (Jan Groth) gehörte früher zu Jerrys Männern. Weil er nach einem Überfall einen Komplizen verpfiffen hat, fürchtet er nun die Rache der Ganoven und flüchtet mit seiner Familie in den Ostteil der Stadt, aber die DDR schickt ihn alsbald wieder zurück. Laschke taucht unter, hält sich mit kleinen Diebstählen über Wasser, kommt zu richtig viel Kohle, klaut eine Pistole und fühlt sich nun stark genug, seinen ehemaligen Boss herauszufordern. Beim Showdown auf einer Müllkippe wird Jerry nach allen Regeln der Kunst auf seine wahre Größe zurechtgestutzt. Am Ende kriecht Jerry, völlig verdreckt, der schöne Anzug zerrissen, die sorgfältig gestylte Frisur komplett hinüber, um Gnade winselnd durch den Dreck und kackt sich aus Angst um sein Leben auch noch in die Hose. Prompt verlieren seine Schläger jeden Respekt vor ihm und jagen ihn zum Teufel; auch Freundin Petra scheint mit fliegenden Fahnen die Seiten zu wechseln. Aber nun spielt Jerry seinen letzten Trumpf aus: Er hat Laschkes Sohn in seiner Gewalt.

Krimi auch darstellerisch reizvoll

Während "Der Boss" selbst bei den Außenaufnahmen noch wie ein Kammerspiel wirkte, sorgen Gräwert und Kameramann Horst Schier bei "Rattennest" immer wieder für Bilder, die in jeder Hinsicht groß sind; als gelte es in der Tat, eine Kinoleinwand zu füllen. Umso seltsamer, dass sich der Regisseur einige Male sehr viel Zeit nimmt. Laschkes Suche nach Jerrys Tresor zum Beispiel würde heute viel flotter inszeniert, und das Interessanteste an einer sehr ausführlichen Einbruchszene ist der John-Wayne-Western, der akustisch den Hintergrund ausfüllt. Gräwert verzichtet ohnehin gänzlich auf Filmmusik. Für Atmosphäre sorgen vor allem eingespielte Songs oder Musik, die zur Handlung gehört: Während Jerrys Knallschergen in Petras Pension warten, übt in einem anderen Zimmer jemand Violine. Damals war es bestimmt auch noch richtig originell, dass aus Richtung Fernseher die "Tatort"-Melodie erklingt ("Rattennest" war der 22. Film der Reihe).
Auch darstellerisch ist der Krimi reizvoll. Zwar ist Paul Esser als Kommissar Kasulke in seinem zweiten und letzten Fall auch wieder bloß eine Nebenfigur und im Angesicht des Verbrechens erneut völlig machtlos, zumal sich die Gangster ohnehin gegenseitig abmurksen, aber ansonsten wirken einige bis heute namhafte Schauspieler mit. Jerrys Freundin zum Beispiel wird von Ingrid van Bergen verkörpert, die später Schlagzeilen ganz anderer Art machte, aber einer der größten Stars des deutschen Kinos der Fünfziger- und Sechzigerjahre war. Der Österreicher Herbert Fux, der dank seiner unverkennbaren Gesichtszüge in Dutzenden Genrefilmen stets den Schurken mimen musste, spielt Jerrys Schläger Frankenstein. Willy Semmelrogge, ab 1974 Mitarbeiter des Essener "Tatort"-Kommissars Haferkamp (Hansjörg Felmy) spielt einen Zigarre schmauchenden Nachtclubbesitzer mit ganz viel Dreck am Stecken. In einer kleinen Rolle (als der von Laschke verratene Komplize) ist Dieter Hallervorden zu sehen, der 1972 zwar schon einen gewissen Ruf als Kabarettist genoss, als Filmschauspieler aber noch am Anfang stand.