Mir ist heute ein Wunder geschehen und mit mir vielen anderen auch. Ich will jubeln, ich möchte andere umarmen und vielleicht würde ich aus Freude auch etwas weinen wollen. Denn es hat sich etwas aufgestaut, seit Jahren, eigentlich seit ich denken kann. Zwar ist die Ehe ein „weltlich Ding“, wie Martin Luther sagt. Doch auch als evangelischer Christ habe ich nur diese eine Welt, so glaube ich, um diesseits das Leben zu gestalten. Mit der heute im Bundestag beschlossenen "Ehe für alle" ist der letzte juristische Baustein der Diskriminierung von Homosexuellen in Deutschland beseitigt. Nun also bin ich bald völlig rechtlich gleichgestellt mit meiner Familie, mit Freunden, Arbeitskollegen und allen anderen zwischengeschlechtlich liebenden Menschen hier im Land. Das hatte ich mir vor einiger Zeit noch gar nicht vorzustellen gewagt. Seit meinem Coming out 1994 habe ich vielfältige Verletzungen erfahren und diese waren nicht in meiner Vorstellung, sondern eindeutig real.
Für mich ist die "Ehe für alle" ein reformatorisches Ereignis. Alles schien schon so festgefahren und ausweglos. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags hatte zuletzt vor neun Tagen Gesetzentwürfe zur Beendigung des Eheverbots für gleichgeschlechtliche Paare mit den Stimmen von Union und SPD bereits zum 30. Mal vertagt. Und nun ging mir alles fast zu beiläufig schnell, nebenher gesagt. Trotzdem freuen wir uns sehr! Bei 623 abgegebenen Stimmen sprach sich heute eine Mehrheit von 393 Bundestagsabgeordneten für eine völlige rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare aus.
Mit der "Ehe für alle" dürfen mein Mann und ich künftig auch als Ehepaar von anderen bezeichnet werden. Wir selbst haben uns immer schon so gesehen. Aber natürlich ist damit auch viel Wichtigeres verbunden: wir erhalten die Chance, unseren Lebensplan nochmal ganz neu denken zu dürfen. Wir haben jetzt bald die Möglichkeit, ein Kind zu adoptieren, wie jedes andere Ehepaar auch.
Darf ich mich jetzt zurücklehnen? Nein, das denke ich nicht. Bei aller momentanen Freude offenbart der Blick in manche evangelischen Landeskirchen weiterhin Ungerechtigkeiten im Umgang mit Homosexuellen. Und „Schwuchtel“ wird wohl erst einmal weiter auch ein Schimpfwort in den Schulen bleiben. Und die Situation von gleichgeschlechtlich Liebenden in einigen anderen Ländern unserer Welt ist immer noch nur katastrophal zu nennen. Und bei Transgender beginnt erst langsam das mühevolle Ringen um die öffentliche Anerkennung der eigenen Identität. Für die lesbische und schwule Community ist heute mit dem Bundestagsbeschluss eine Mauer gefallen, die sie von der Mehrheit der Menschen hier im Land getrennt hat. Heute bin ich nicht mehr der vom anderen Ufer, sondern seit heute gehen wir alle gemeinsam mit unseren Familien an den Strand.