"Das Glaubensbekenntnis spielt primär bei der Taufe eine Rolle", ist Pastor Dirk von Jutrczenka überzeugt. Gewisse theologische Strömungen spülten es in die Gottesdienste. Der Konvent der evangelischen St. Remberti-Gemeinde hat es allerdings schon vor rund Hundert Jahren aus dem sonntäglichen Alltag verbannt. Und selbst in einem Taufgottesdienst spricht die Gemeinde nicht das apostolische Bekenntnis. Ein Zustand, der immer wieder auch diskutiert wird. Mehrere Gemeindeglieder versichern: Sie vermissen nichts, im Gegenteil, denn sie könnten einige Passagen nicht guten Gewissens mitsprechen.
Für Dirk von Jutrczenka war es eine Umstellung, als er nach Bremen kam. Obwohl er auch schon in der Hannoverschen Landeskirche einmal pro Monat in einem besonderen Gottesdienst für kritisch-distanzierte Menschen auf das Glaubensbekenntnis verzichtet hatte. "Ich kann keinen Gottesdienst machen, in dem ich sage, ihr seid, unabhängig von eurer Einstellung, hier willkommen. Und jetzt sprechen wir aber alle gemeinsam das Glaubensbekenntnis. Auf die Plätze, fertig los. Das geht nicht." Nach manchen Sonntagsgottesdiensten seien Leute auf ihn zugekommen, die sich bei den Worten "geboren von der Jungfrau Maria, er sitzt zur rechten Gottes, von dort wird er kommen" unwohl gefühlt hätten, weil sie nicht so viel damit anfangen konnten.
Bei der Remberti-Gemeinde hat dieses Unwohlsein schon vor Jahrzehnten dazu geführt, dass die Gemeinde beschloss: Dann sprechen wir es eben einfach nicht, es zwingt uns ja keiner. Denn innerhalb der Bremischen Evangelischen Kirche herrscht Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit und es gibt keinen Landesbischof. Das sei gut so und solle auch im Zuge einer Verfassungsreform nicht angetastet werden, erklärt Schriftführer Renke Brahms und stellt klar: "Manche theologischen Unterschiede sind nicht nur eine Frage tiefer Theologie, sondern auch eine Frage unterschiedlicher Zugänge zum Glauben." Dies entspreche unserer pluralistischen, ausdifferenzierten Gesellschaft. Nicht verhandelbar hingegen sei das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der heiligen Schrift offenbart und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten sei, sagt Renke Brahms.
"Jesus verlangt keine Glaubensbekenntnisse", sagt Pastor Uli Bandt in einem Gottesdienst der St- Remberti-Gemeinde. Im weißen Talar steht er vor rund 80 Besuchern, die Orgel spielt, er spricht einen Psalm, ein youtube-Film unterstütz die Predigt. Es geht darum, dass Gott uns sieht, nicht ohne Trump und Erdogan zu erwähnen. Ein Friedensgebet von Franz von Assisi, ein paar Zeilen von Dorothee Sölle und der klassische Segensspruch. Wir sind Suchende, erklärt Pastor Uli Bandt. Anders als sein Kollege Dirk von Jutrczenka hatte er schon ganz früh ein gespaltenes Verhältnis zum Glaubensbekenntnis. Nicht intellektuell, sondern gefühlsmäßig.
Dieses stehend gemurmelte, mystische Ritual sei ihm als Kind schon unheimlich gewesen. Uli Bandt wuchs in der ehemaligen DDR auf, war Pfarrer auf der Insel Rügen. Da sei ihm der "inklusive Gottesdienst" wichtig gewesen, auch für Menschen ohne kirchliche Sozialisation, weil eben viele Urlauber oder Kurgäste in seine Gemeinde gekommen seien. Uli Bandt will niemanden nötigen, in einer mittelalterlichen Sprache Glaubensinhalte zu bekunden, die auf den ersten Blick sehr interpretationsbedürftig sind, über die man als aufgeklärter Mensch stolpert. Stattdessen nutzt er Bonhoeffer oder von Konfirmanden formulierte Texte.
Bei einer Konfirmation würden dann schon mal acht verschiedene Glaubensbekenntnisse von den Konfirmanden selbst gesprochen, sagt Dirk von Jutrczenka und lacht. Am apostolischen Glaubensbekenntnis stört ihn, dass es gar nicht die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens wiedergibt, sondern sehr pointiert ist, mit großen Auslassungen: "Von Jesus handelt es kaum, der gerade bei uns hier in der Gemeinde sicherlich wegen seines Verhaltens wichtig ist, seiner Menschenfreundlichkeit, seines Zugehens auf andere – das spielt im Glaubensbekenntnis ja alles überhaupt keine Rolle. Geboren und dann schon wieder gekreuzigt, gestorben und begraben."
Dass Jesu Wirken nicht vorkomme, sagt der Pfarrer, mag kirchenhistorisch und theologisch nachvollziehbar sein, heiße aber nicht, dass der Glaube heute auf dieselbe Art zu formulieren sei. "Von Jesus sind seine Begegnungen mit Menschen überliefert, sein Sprechen vom Glauben, wie er Leute ermuntert hat, in die Beziehung zu Gott wieder oder zum ersten Mal einzutreten. Er hat Leidende geheilt und Verkrümmte aufgerichtet. Mir ist nie aufgefallen, dass er gesagt hat: Jetzt bitte sprich mir nach." Glaube heiße doch darauf zu vertrauen, dass es mit Gott eine Kraft gebe, die am Beginn des eigenen und allen Lebens steht; "eine Kraft, die mich begleitet und stärkt. Glaube heißt Gemeinschaft mit anderen erleben. Solidarisch, einfühlsam und achtsam zu leben, aber doch nicht ein Glaubensbekenntnis nachzusprechen," erläutert Dirk von Jutrczenka seinen Standpunkt.
Den Verstand nicht an der Kirchentür abgeben
Die Remberti-Gemeinde versteht sich als eine Gruppe von suchenden, fragenden, hinterfragenden Menschen. Sie wollen Aufgeklärtheit und kritisches Denken mit dem Bedürfnis nach einer tiefen Spiritualität verbinden. Dabei auch die Reibung aushalten, die zwangsläufig entsteht. "Ich kann mir als aufgeklärter Mensch Gott nicht als eine Person vorstellen," sagt Pastor Uli Bandt, "aber auf der anderen Seite erlebe ich eine tiefe Bedürftigkeit, weil ich erfahre, dass ich selbst mein Leben nicht komplett in der Hand habe, und all mein kluger Verstand und alle Kritik mir nicht helfen, mein Leben sinnvoll und auch in Krisen zu gestalten." Da brauche er Gott als persönlichen Ansprechpartner im Gebet. Auch wenn dabei die Gefahr bestehe, Verantwortung zu delegieren, fügt er hinzu.
Bandt spricht von einem innerlichen Spagat, für den es auch liturgische Formen geben müsse. Er begrüßt eine undogmatische Betrachtungsweise der Bibel und möchte gleichzeitig Nahrung für die seelische Bedürftigkeit bieten.
Die Gemeinde definiert sich über die Offenheit im Denken und Glauben, sowie die Toleranz im Gespräch und der Auseinandersetzung. Nicht über dogmatische Glaubenssätze. Das hat Tradition in St. Remberti: Vor knapp 200 Jahren zweifelte Remberti-Pfarrer Wilhelm Nagel an der Schöpfung wie sie in der Bibel steht, sowie an Himmel und Hölle. Man soll seinen Verstand hier nicht an der Kirchentür abgeben. "Die St. Remberti-Gemeinde zu Bremen ist eine evangelische Gemeinde" - so beginnt das Vorwort der Gemeindeverfassung. Alle reformatorischen Bekenntnisse gelten gleichberechtigt, Grundlage ist das von Jesus Christus verkündete Evangelium. Ein paar Zeilen weiter steht: "Ihre Pastoren sind ohne Verpflichtung auf eine bestimmte bekenntnismäßige Ausdeutung gehalten, dieses Evangelium ihrer Überzeugung gemäß zu verkünden, so wie es vor Gott und ihrem Gewissen verantworten zu können."
Schöpfungstheologie, Sühneopfertheologie, Heilsbedürftigkeit der Menschen durch das Opfer Jesu werden kritisch hinterfragt. Auch wenn es nicht zum Gottesdienst gehört: Im apostolischen Glaubensbekenntnis steckt viel Bedeutung, genauso wie in alten Kirchenliedern wie "Nun freut euch liebe Christen G‘mein" von Martin Luther. Aber das dieses eins zu eins der Inhalt unseres Glaubens sein soll, das sei absurd, sagt Dirk von Jutrczenka. Er leidet darunter, wenn Leute egal welchen Glaubens und welcher Religion, tolle Glaubenserfahrungen verkrusten lassen und anschließend erstarrte Wahrheiten als Voraussetzung gelten.
Sowohl Dirk von Jutrczenka als auch Uli Bandt haben sich beide ganz bewusst auf eine Stelle bei der Remberti-Gemeinde in Bremen beworben. Die gegebene Freiheit innerhalb der Bremischen Evangelischen Kirche wollen sie verantwortungsvoll ausfüllen. "Letztlich werden wir uns nicht aus der Gemeinschaft der Christenheit rausnehmen, in dem wir hier ein anders formuliertes Vaterunser beten", führt Bandt aus, "zum Beispiel, 'und führe uns in der Versuchung', wie das ja durchaus einige tun. Aber wir besprechen es, wir gucken es an. Das macht mir die Gemeinde so lieb, dass wir versuchen, für die jeweilig Situation und unsere Zeit unsern Glauben immer wieder auch neu zu definieren und zu sagen, wenn wir an bestimmten Stellen ratlos sind und die Brüche nicht kitten können. Da erlebe ich viel Zuspruch in der Gemeinde. Und es ist trotzdem stärkend, was ich sage, obwohl es nicht mit aller Inbrunst und Glaubenssicherheit gesprochen wird."
In Bremen heiße es: "Ach, die in Remberti, die sprechen ja nicht mal das Glaubensbekenntnis" - eine verständliche Außenwahrnehmung einer Gemeinde, die Mitglied ist beim Bund für freies Christentum. Dabei fühlt sich die Gemeinde nicht als missverstandenes Opfer sondern sieht ihr Vorgehen als Statement.
Es gibt allerdings durchaus die Möglichkeit, das Glaubensbekenntnis zu sprechen, ohne es wortwörtlich zu verstehen, sind sich die Pastoren einig. Dirk von Jutrczenka stellt klar, dass mancher zugespitzter Protest gegen die Zumutung, das Glaubensbekenntnis zu sprechen, den gleichen Fehler mache, wie die Kollegen von der ganz evangelikalen Seite: "Nur weil Christen gewisse Dinge aussprechen werden sie noch keine historische Tatsache." Der Pastor vergleicht alte Lieder und Texte mit einem geborgten Mantel: "Ich weiß, dass der an manchen Ecken vielleicht ein bisschen enger sitzt, aber ich mich trotzdem einhüllen kann." Insofern hat Dirk von Jutrczenka auch gar kein Problem damit, das apostolische Glaubensbekenntnis zu sprechen, beispielsweise anderswo im Gottesdienst.
"Wir wollen einen Bezug finden zu der Quelle, aus der auch Jesus gelebt hat"
Pastor Uli Bandt ist ein bisschen genervt von der Außenwahrnehmung. "Mir wäre es recht, wenn Remberti nicht nur an solchen Spitzen gemessen wird, sondern auch daran, dass wir ernsthaft danach suchen, was Jesu Leben und die Verkündigung für uns heute auch im politischen Engagement bedeuten und im Gespräch mit anderen Religionen. Wir versuchen eine lebendige Gemeinde zu sein und mit unserem Engagement in die Gesellschaft hinaus zu strahlen. Das finde ich sehr viel wichtiger."
"Statt das Glaubensbekenntnis zu sprechen, suchen wir gemeinsam nach Vertrauen," stellt Uli Bandt klar. "Wir wollen eine Lebenshaltung vermitteln, die hilft, in einer zum Weinen und zum Verzweifeln bringenden Welt trotzdem hoffnungsvoll zu leben, in Respekt vor der Schöpfung. Wir wollen einen Bezug finden zu der Quelle, aus der auch Jesus gelebt hat und herausfinden: Was heißt das für uns ganz konkret?"
Das Glaubensbekenntnis ist dann eben das Vaterunser, die praktische Arbeit oder das Gespräch hinterher. Zum Beispiel nach jedem Gottesdienst eine dreiviertelstunde lang Diskussion.