Wer sich als Muslim in einem europäischen Land intensiver mit Religionen beschäftigt, der "begegnet" früher oder später Luther. Das sagt Professor Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster. So erging es ihm – und auch Hamideh Mohagheghi, die am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften für die islamische Theologie an der Universität Paderborn lehrt. Die aus dem Iran stammende islamische Theologin "hörte" erstmals als Erwachsene von Luther - und zwar nach ihrer Migration nach Deutschland im interreligiösen Dialog. Luther spiele im alltäglichen, religiösen Leben der Muslime keine Rolle, sagt Mohagheghi. Sie vermutet, "dass nicht einmal religiöse Instanzen in den Moscheen was von ihm wissen".
Ähnliches berichtet auch Professor Khorchide, der im Libanon geboren wurde und in Saudi-Arabien aufwuchs. Als 18-Jähriger kam er zum Studieren nach Österreich und hat erst danach von Luthers Positionen erfahren. Ein Großteil der Muslime wisse "leider" nichts von der Existenz, geschweige denn von der Relevanz Luthers, meint auch er. Umgekehrt gehe aber auch das Wissen von vielen Christen über Mohammed nicht über das Klischee hinaus. Was wiederum damit zusammenhänge, dass beide Seiten viel übereinander, aber kaum miteinander redeten. Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem "Anderen", erklärt der Religionspädagoge, erfordere zuerst eine Auseinandersetzung mit dem "Eigenen". Daran mangele es aber.
Die Islamwissenschaftlerin Armina Omerika hingegen hörte Luthers Namen im Geschichtsunterricht, an den genauen Zeitpunkt kann sie sich aber nicht erinnern. Der Bekanntheitsgrad Luthers bei Muslimen hänge auch davon ab, in welchem Kontext sie das Christentum kennenlernten, meint Omerika. In manchen muslimischen Gesellschaften - beispielsweise im Nahen Osten - seien andere Prägungen des Christentums mehr bekannt. Anders als man es hingegen hierzulande wisse, hätten sich gerade im 19. Jahrhundert muslimische Intellektuelle im Nahen Osten intensiv mit der Reformation befasst und seien teilweise von den Debatten gerade im deutschen Protestantismus der Zeit beeinflusst worden, berichtet die Professorin, die an der Frankfurter Universität im Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam lehrt.
Aus der Perspektive eines islamischen Theologen sei das herausragende an Luther seine klare Ansage "sola scriptura" (nur durch die Schrift), so Khorchide. Diesen Grundsatz der Reformation bringt er mit der salafistischen Position in Verbindung: Zurück zum Text, also zum Koran und zur Sunna (der prophetischen Tradition). Zwar gebe es im Islam keine ähnliche Instanz wie die Kirche, aber religiöse Autoritäten in Form von Gelehrten, denen heute viele Muslime unhinterfragt folgten. Viele islamische Theologen deklarierten die Positionen der bis zum 10. Jahrhundert entstandenen Schulen und exegetischen Werke als "heilig, unantastbar, unhinterfragbar und unverrückbar". Das erzeuge subtile Mechanismen der Bevormundung der Gläubigen; sie fühlten sich nicht selbst in die Pflicht genommen, ihre Religiosität für sich zu entwickeln, selbst nach Antworten auf Fragen zu suchen, sondern delegierten diese an Gelehrte, Imame und weitere religiöse Instanzen, die der Islam im Grunde nicht kenne. Der Prophet Mohammed habe aber keine religiösen Autoritäten gewollt, denen sich die Menschen unterwerfen. Ihm sei es vielmehr um die spirituelle und ethische Erziehung des Gewissens zu einem Maßstab für humanes Handeln gegangen. "Wenn ich aber meine Religiosität an Dritte delegiere, dann bin ich ihnen in meinen religiösen Fragen ausgeliefert. Und da sind wir wieder bei Luther", betont Khorchide.
An Islamischen Instituten spielt Luther kaum eine Rolle
Dass Luther sich gegen die Autorität der Kirche eingesetzt hat, wird von den drei muslimischen Wissenschaftlern positiv hervorgehoben. "Für mich steht Luther für die Freiheit der Menschen, anhand der Quellen selbst herauszufinden, was der Glaube ist", sagt Mohagheghi. Luther habe Bewegung in die festgefahrene religiöse Starrheit gebracht und den Menschen Mut gemacht, durch Bildung und Lesen der Bibel den Glauben zu verstehen. "Wir Muslime können durchaus uns Gedanken darüber machen, ob seine Ideen auch wegweisend für die Muslime sein können", sagt die Theologin. An den Islamischen Instituten in Deutschland spiele aber Luther ihres Wissens keine oder kaum eine Rolle.
Die Haltung Luthers, die die Mündigkeit des Gläubigen in religiöser Hinsicht betone, sollten Muslime heute im Islam wiederentdecken, meint Khorchide. Und für Omerika ist der "zentrale Grund", sich als Muslime mit Luther zu beschäftigen, der Umgang der heutigen evangelischen Theologie mit Luther. Die Evangelische Kirche in Deutschland wie auch Theologen an den Hochschulen kommunizierten und debattierten mittlerweile offen über Luthers Einstellung zu Juden, Frauen, Muslimen und gesellschaftliche Hierarchien. Seine problematischen Ansichten würden nicht geteilt, sondern sehr kritisch diskutiert - was christliche Theologen nicht davon abhalte, andere Impulse, die von Luther ausgingen, aufzunehmen und weiterzudenken. "Das Verhältnis der evangelischen Kirche zu Luther zeigt uns Muslimen, dass es auch für uns möglich ist, einen kritischen Umgang mit der eigenen religiösen Tradition zu finden und weiterzuentwickeln", sagt Omerika.
Auf die öffentlich immer wieder eingeforderte Reformation des Islams reagieren die drei muslimischen Wissenschaftler unterschiedlich. "Eine ständige Reform ist deshalb notwendig, weil es darum geht, den Glauben und seine Auslegung im Leben des Muslims immer neu zu aktualisieren, wie es der Koran nahelegt, denn nur so hält man ihn lebendig. Reform in diesem Sinne bedeutet also nicht, die Grundsätze der Religion, wie den Monotheismus, zu verändern; verändert und aktualisiert werden soll unser Verständnis von Religion, überprüft werden sollen die jeweiligen Positionen und Argumente. "Eine Reformation, wie sie im Christentum erfolgte, kann nicht analog auf den Islam übertragen werden, denn das Christentum hat mit der Institution Kirche eine andere Geschichte", sagt Mohagheghi. Sie sei aber davon überzeugt, dass jede Religion Reflexionen und auch Erneuerungen brauche - somit auch der Islam.
Als "wenig hilfreich für theologische Debatten" erachtet Omerika die Forderung nach einer Reformation des Islams. Luthers Denken und Wirken sei zu verstehen als Reaktion auf ganz spezifische historische Kontexte. Auf muslimische Gesellschaften heute ließen sich diese Konstellationen nicht übertragen. Die Probleme, die es zweifelsohne in der islamischen Welt gebe, seien ganz anders gelagert als die, die in den deutschen Fürstentümern des 16. Jahrhunderts existierten. Die Krisen in muslimischen Gesellschaften seien das Resultat vieler Faktoren wie Armut, Ressourcenkämpfen, postkoloniale Lasten, fehlende Rechtsstaatlichkeit und mangelnde demokratische Legitimation. "Was das islamische Denken betrifft: Ja, das muss sich neu orientieren, die Schriften der Tradition müssen neu gelesen und historisiert werden. Die traditionellen Denkformen müssen überprüft werden darauf, ob die methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen heute noch adäquat sind", betont Omerika. Es müssten also nicht allein Inhalte, sondern die Verfahrensweisen, sich mit den Inhalten zu befassen, auf den Prüfstand. Und es müsse darüber nachgedacht werden, ob die Positionierungen der Vergangenheit adäquate Lösungen für Muslime der Gegenwart böten, erklärt die Islamwissenschaftlerin: "Die Lösung dieser Probleme liegt aber nicht in einer Reformation nach historischen Vorbildern aus anderen Zeiten."