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TV-Tipp: "In Wahrheit - Mord am Engelsgraben" (Arte)
9.6., Arte, 20.15 Uhr: "In Wahrheit - Mord am Engelsgraben"
Die Filmografie von Regisseur Miguel Alexandre weist diverse Mehrteiler auf, die in die Kategorie "Event"-Fernsehen gehören. Für die ARD hat er unter anderem den Udo-Jürgens-Film "Der Mann mit dem Fagott" oder das Mutter-gegen-Stasi-Drama "Die Frau vom Checkpoint" gedreht, für RTL "Die Patin" oder das Flieger-Epos "Starfighter". In den letzten Jahren hat sich der gebürtige Portugiese im Wesentlichen darauf konzentriert, die ZDF-Gotlandkrimireihe "Der Kommissar und das Meer" neu zu erfinden. Auch sein jüngstes Werk, "In Wahrheit", ist keines jener Projekte, für das ein Sender Plakatwände mieten würde.

Der Film erzählt eine gewöhnliche Krimigeschichte nach dem Muster "Die Spur führt in die Vergangenheit": Nach der Ermordung einer Prostituierten stößt die ermittelnde Kommissarin Judith Mohn (Christina Hecke) auf einen alten Fall. Damals ist eine junge Ausreißerin spurlos erschwunden. Warum die Ermittlerin ahnt, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen gibt, wird allerdings nicht recht deutlich. Andererseits spielt der Film im Raum Saarlouis, wo es vermutlich noch weniger Morde gibt als im Rest der Republik; da liegt es dann wohl nahe, nach Zusammenhängen zu suchen. Davon abgesehen könnte sich die Geschichte überall zutragen; Alexandre hätte sie auch als neue Episode der Gotland-Krimis erzählen können.

Zumindest aus Sicht der Verantwortlichen ist "In Wahrheit - Mord am Engelsgraben" aber offenbar mehr als nur ein Feld-, Wald- und Wiesenkrimi, wie die Darstellerliste zeigt: Selbst für kleinste Rollen wurden namhafte Schauspieler engagiert. Die Eltern des verschwundenen Mädchens zum Beispiel werden von Ulrike Krumbiegel und Peter Kremer verkörpert, die aber kaum was zu tun haben. Noch verschwenderischer ist die Besetzung von Judith Mohns Mann Niklas mit Juergen Maurer, der nur wenige Dialogsätze hat, dem Gatten aber eine düstere Aura verleiht. Der Mann ist offenbar physisch und psychisch versehrt, die Hintergründe lässt der Film offen.

Das Drehbuch stammt von Harald Göckeritz, der schon oft mit Alexandre zusammengearbeitet hat; für "Grüße aus Kaschmir" wurden die beiden 2005 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Ihr jüngstes gemeinsames Werk ist allerdings trotz der bekannten Mitwirkenden eher unspektakulär, auch wenn die elegante Bildgestaltung - Alexandre führt seit einigen Jahren stets auch die Kamera - von sichtbarer Sorgfalt geprägt ist. Viele Szenen spielen im Halb- oder Dreivierteldunkel, was aber natürlich nicht automatisch ein Qualitätsmerkmal ist. Die Luftaufnahmen der Saarschleife sind jedoch sehr schön. Es gibt ohnehin diverse schwungvolle Kamerafahrten und -flüge, die mitunter allerdings mehr Dynamik suggerieren, als die Geschichte hergibt. Und selbst wenn Christina Hecke immer ein Anlass zur Freude ist: Echte Spannung oder Anteilnahme will sich nicht einstellen, dafür kommen die Nebenfiguren einfach zu kurz. Andererseits erzählt der Film interessante Dramen am Rande, etwa vom Ehepaar Kupka (Anna Loos, Christian Berkel), dem nicht nur die Liebe abhanden gekommen ist, wie der beiläufige Blick auf eine Narbe am Handgelenk verrät; oder von dem wunderlichen Herrn Mahn (Sebastian Rudolph), der sich mit einem kaschierten Hilferuf als Verdächtiger ins Spiel bringt, um von seinem Dasein als Betreuer seines pflegebedürftigen Vaters erlöst zu werden. Warum er in einem verschlossenen Zimmer lauter Material über die beiden Fälle aufbewahrt, wird ebenfalls nicht erklärt.

Reizvoll ist auch die Figur eines Polizisten im Ruhestand: Markus Zerner (Rudolf Kowalski) hat einst den Dienst quittiert, weil er den Eltern der verschwundenen Maria keine Gewissheit über das Schicksal ihrer Tochter verschaffen konnte; Judith Mohn reaktiviert ihn gewissermaßen. Zerners Hauptverdächtiger war damals Paul (Constantin von Jascheroff), der Freund des Mädchens, und selbstredend nimmt auch Mohn den jungen Mann ins Visier. Dieser Teil der Geschichte illustriert, was der Zustand der ständigen Ungewissheit für Hinterbliebene bedeutet: Es ist nie vorbei. Schließlich stellt sich raus, dass der erste Todesfall ein völlig sinnloses, absurdes Unglück war, und womöglich war diese Idee der Ausgangspunkt der ganzen Geschichte. Auf die bittere Wahrheit stößt die Kommissarin durch den Zufallsfund einer winzigen Matrjoschka-Puppe, eine gern verwendete und vielfach interpretierbare Metapher.

Davon abgesehen ist "In Wahrheit" ein Krimi, der sich gut anschauen lässt, aber eher nicht in Erinnerung bleiben wird; da hat Alexandre, auch für "Der Kommissar und das Meer", schon ganz andere Filme gedreht. So gesehen ist es fast wieder schade um das Ensemble, zumal die guten Schauspieler angesichts der Kürze ihrer Auftritte nur an der Oberfläche ihrer Figuren ratzen können. Anna Loos, stark geschminkt und dadurch noch strenger wirkend als sonst, gelingen als innerlich verhärmte Fernfahrerfrau dennoch intensive Momente. Fast zu groß für ihre Mini-Rolle ist auch die junge Emilia Bernsdorf, die seit zwei Jahren regelmäßig Glanzlichter setzt, zuletzt unter anderem als Tochter im Heike-Makatsch-"Tatort" ("Fünf Minuten Himmel"), davor in der "Inga Lindström"-Romanze "Liebe deinen Nächsten"; hier spielt sie in den Rückblenden die verschwundene Maria.

Sehenswert ist der handlungsreiche Film auch wegen Christina Hecke, selbst wenn sie Frauen wie Judith Mohn regelmäßig verkörpert: empathisch, freundlich, ruhig, außerdem attraktiv und langbeinig; abgesehen von den Eheproblemen also eine erfrischend positive Ermittlerfigur komplett ohne die üblichen Macken. Nur einmal rastet die Kommissarin aus: Kollege Freddy (Robin Sondermann) hat sich von dem scheinbar harmlosen Mahn übertölpeln lassen. Freddy revanchiert sich etwas überraschend mit einem Kuss, was seine Chefin nicht weiter kommentiert; gemeinsam mit dem vermeintlichen Reihentitel und der ungeklärten Düsternis des Gatten Mohn ein weiteres Indiz dafür, dass "Mord am Engelsgraben" nicht der letzte Fall für Judith Mohn gewesen sein könnte. Das ZDF wäre einer Fortsetzung jedenfalls nicht abgeneigt, vorausgesetzt, der Auftakt findet genügend Zuschauer. Den Saarländern soll’s recht sein; mit Ausnahme des "Tatort" aus Saarbrücken ist das Bundesland filmische Diaspora.