Niemand weiß mehr so ganz genau, wo die Geschichte des Raums der Stille an der Universität Siegen beginnt: Vielleicht im Kopf von muslimischen Studierenden, die es leid waren, in einem abgelegenen Teil der Universitätsbibliothek zu beten, vielleicht auch im Kopf von Studierendenpfarrer Dietrich Hoof-Greve. Man weiß aber ziemlich genau, wann die Diskussion um diesen Raum einen Knick bekam: Das war der Tag, an dem die Kollegen von der Universität in Dortmund unter reger Begleitung der nationalen Medien ihren Raum der Stille schlossen, weil "Nutzer den Raum wiederholt umgestaltet hatten, um eine Geschlechtertrennung vorzunehmen, was die TU Dortmund als staatliche, dem Grundgesetz verpflichtete Einrichtung nicht dulden darf." So stand es in einer kurzen Mitteilung auf der Homepage der TU Dortmund, verlinkt war an der Meldung ein offener Brief der Uni-Leitung. Tatsächlich hatten Muslime den Raum der Stille zu einem Gebetsraum mit Geschlechtertrennung umfunktioniert. Weibliche Besucherinnen des Raumes wurden am Eingang von männlichen Muslimen abgefangen und darauf hingewiesen, dass sie nur Zugang zu einem kleineren, abgegrenzten Raumteil hätten - der größere wiederum sei nur Männern vorbehalten. Daraufhin begann man in Siegen, über angebliche oder tatsächliche Raumbesetzungsstrategien der Muslime oder auch "Islamisten" zu diskutieren.
Was also konnte man anders machen, so dass am Ende ein Raum der Stille an der Universität Siegen stehen könnte, um den es nicht laut wird? Was könnte der Unterschied zwischen Dortmund und Siegen sein? Um sich dem anzunähern, sollte man die Argumentationsstruktur der verschiedenen Kritiker verstehen: Da gibt es die Befürchtung, dass Muslime Schritt für Schritt öffentlichen Raum besetzen, religiös prägen, den man nicht mehr für den Allgemeingebrauch zurückholen kann, ohne das geschützte Interesse der Religionsausübung zu beschädigen. Da gibt es natürlich auch die Linie, dass Universitäten weltanschaulich neutrale Orte sein sollten. Und letztlich auch die Betrachtungsweise, dass man ja schließlich in Deutschland sei, wo man sich an die Regeln und die Kultur des Gastlandes zu halten habe.
Das sieht Hans-Michael Heinig zum Beispiel anders. Der evangelische Kirchenrechtler formulierte es in einem Beitrag für die ZEIT so: "Hochschulen sind auch Lebensorte. Deshalb gibt es dort Mensen, Unisportgruppen, Chöre und Orchester, therapeutische Angebote, Kneipen und Cafés. Warum also nicht auch Gottesdienste und die Lektüre heiliger Texte? […] Religiöse Studentengruppen haben deshalb zumindest den Anspruch, wie alle anderen studentischen Initiativen und Kreise behandelt zu werden." Heinig jedoch schränkt vorsichtshalber ein: "Damit ist kein Freibrief für jeden Unsinn ausgestellt."
Es gibt aber auch die Angst, dass der Betrieb des Raums der Stille beim leisesten öffentlichen Einspruch gefährdet sein könnte. Nicht jeder hat die Kraft, einen Facebook-Shitstorm auszuhalten. In Siegen will man solche Dinge ertragen, auch wenn die Stimmung einmal eine andere sein sollte.
"Uni und Religion – das passt für uns nicht so richtig zusammen"
Als man in Siegen zu planen begann, da spielte der Seminarrat der evangelischen Theologie eine nicht unwesentliche Rolle. Die Theologen waren für einen Raum der Stille, Prof. Thomas Naumann brachte das Anliegen in den Senat. Kanzler und Rektor hatten ein offenes Ohr. "Die Universität wird immer stärker zu einem Raum gemeinsamen Lebens" lässt die Uni verlauten. "Einer modernen kulturoffenen Universität als Arbeits- und Lebensort entspricht es, es Personen zu ermöglichen, auch ihrem menschlichen Grundbedürfnis nach Ruhe und Pausen Ausdruck zu geben." Zudem habe sich herausgestellt, dass die These von der Religion als Privatsache nicht mehr aktuell sei. Religiöse und spirituelle Bedürfnisse und Erfahrungen seien heute immer auch ein Thema für die Hochschulen, ebenso wie das in Forschungszentren, Flughäfen oder Krankenhäusern selbstverständlich sei.
Die Siegener Studierendenvertretung allerdings sieht das Projekt kritisch. "Wir wollen eine säkulare Uni", beschreibt Asta-Vorsitzender Sebastian Mack die Haltung der Studentenvertreter. "Uni und Religion – das passt für uns nicht so richtig zusammen".
Schließlich gab es einen Arbeitskreis aus Protestanten, Katholiken und Muslimen. Man habe die Situation in Dortmund genau beobachtet, sagt Studierendenpfarrer Dietrich Hoof-Greve. Als Antwort für die dort aufgetretenen Probleme entstand die Zweiraumlösung: ein Raum für Stille und ein Raum für Versammlungen und religiöse Rituale. Eine Gelegenheit für rituelle Waschungen ist jedoch nicht vorgesehen. Begleitet werden soll das Projekt durch einen Beirat, dem akkreditierte Gruppen angehören, derzeit Protestanten, Katholiken, die Muslimische Hochschulgemeinde, die Studentenmission, aber auch kleinere Gruppen wie die Alewiten. Dieser Beirat allerdings soll mehr sein als nur ein Beratungsgremium.
Das zeigte sich bereits bei einer zentralen Überlegung: Wie soll man im Raum der Stille beten? Der Beirat sagte: Es muss klar sein, dass lautes Beten nicht akzeptiert wird. Wer laut bete, verstoße gegen die Raumnutzungsordnung. "Unter dieser Bedingung ist jeder Muslim willkommen", formuliert Dietrich Hoof-Greve, nicht ohne anzumerken, dass das stille Gebet auch für Christen verbindlich sei.
Allerdings gehe es auch gar nicht in erster Linie ums Beten. Es gebe an der Universität keinen Raum, in dem man einmal zwischen zwei Vorlesungen, vor einer Klausur zur Ruhe kommen könne. Pastor Markus Püttmann, Leiter der Katholischen Hochschulgemeinde, setzt auf größtmögliche Transparenz im Prozess. "Ich habe den Wunsch, dass Siegen mit dem Raum der Stille ein Beispiel gibt, dass so etwas gelingen kann." Es sei aber auch ein Projekt, "wo ich den Ausgang noch nicht kenne und immer wieder beobachten muss, ob ich das als KHG mittragen kann".
Das vorläufige Ergebnis der Planung ist in Siegen inzwischen absehbar: "Wenn alles gut läuft, kann der Raum der Stille am 3. Juli zum Tag der Religionsfreiheit eröffnet werden", sagt Dietrich Hoof-Greve. Auch Hanna Werthenbach und Ammar Ibrahim, Mitglieder der Muslimischen Hochschulgemeinde sind überzeugt davon, dass die Stolpersteine auf dem Weg zum Raum der Stille weggeräumt sind. In Siegen sind es 2 bis 3 000 Studierende, die das betrifft, sagt die MHG-Sprecherin Hanna Werthebach. Diese Zahl spiegele sich auch in der Struktur der Muslimischen Hochschulgemeinde wider, in der Sunniten und Schiiten organisiert seien. Das stille Gebet sei problemlos zu akzeptieren, schließlich werde auch in der Moschee nicht immer laut gebetet. Ammar Ibrahim formuliert es noch deutlicher. Er habe den MHG-Mitgliedern die Regeln vorgestellt: "Wer laut beten will, der soll das woanders tun. Es ist auch in unserem Interesse, dass das Zusammenspiel funktioniert." Wenn es wirklich Vorfälle gäbe, dann könne man nachweisen, "dass das dann keines von unseren registrierten Mitgliedern war." Und Hanna Werthebach ergänzt: "Wir wissen, dass das Konfliktpotenzial da ist. Wir sind aber erwachsene Menschen und können uns fragen: Ist dieser Raum was für uns?"
Und was passiert, wenn Menschen, die nicht im Beirat, in MHG, Katholischer Hochschulgemeinde oder der Studentenmission organisiert sind, den Raum für sich reklamieren? Was, wenn missioniert wird? Dann gibt es ja immer noch die Hausordnung…