Der Märtyrergedanke wurde im Februar 2015 wieder aktuell, als 21 Kopten vom sogenannten Islamischen Staat an einem Strand in Libyen ermordet wurden. Die Menschen in der ganzen Welt waren geschockt über die Gräueltat und viele schauten das Video nicht an, um die Würde der Opfer zu bewahren. Christen in Ägypten taten das Gegenteil. Sie sahen das Video bis zum Ende. Warum?
Bischof Thomas: Sie wollten das Leiden mit denen teilen, die enthauptet wurden. Beim Ansehen des Videos entdeckten sie plötzlich, dass in dem Augenblick, wo ihnen die Messer an die Kehlen gesetzt wurden, die jungen Männer den Namen Jesu Christi riefen. Einige Tage später erklärte die Koptische Kirche sie zu Märtyrern der Kirche und nahm sie in den offiziellen Kanon auf.
Damals äußerten in den sozialen Medien viele Ägypter Freude darüber. Ikonen über das Grauen am Strand in Libyen wurden geschrieben. Viele im Westen konnten dieses Verhalten nicht nachvollziehen. Haben Kopten keine Angst, sind sie nicht wütend, fühlen sie sich nicht bedroht?
Thomas: Denken Sie nicht, dass wir nicht trauern. Wenn unschuldige Menschen umgebracht werden, fließen viele Tränen. Im Martyrium gibt es aber beides: den Schmerz des Kreuzes und die Freude über die Erlösung. Nehmen Sie das Beispiel von Maria, der Mutter Gottes. Sie musste ihr Kind geben, aber sie freute sich über die Erlösung durch Gott. Das ist, was die Christen in Ägypten fühlen.
Hassen die Kopten diejenigen nicht, die die 21 getötet haben oder die anderen Christen schaden?
Thomas: Wenn es so eine Tragödie gibt, sagen wir den Menschen immer, dass sie keine Angst vor denen haben sollen, die töten. Ja, die Mörder können den Körper nehmen, aber was können sie sonst noch tun? Sie können nicht den ewigen Ruhm Gottes nehmen. Wer keine Angst hat, kann lieben, vergeben und Stärke zeigen. Vergessen Sie nicht, dass die Geschichte der 21 jungen Männer in Libyen schon viele Wochen vor diesem Tag an der Küste begonnen hatte. Sie wurden entführt, sie wurden gefoltert, um ihrem Glauben abzuschwören. Diese Männer aber beteten und hoben die Augen zum Himmel. Wer den Blick nach oben richtet, für den erscheinen die Dinge auf der Erde kleiner.
Aber ist das nicht einfach ein psychologischer Trick? Sie versprechen einer Person etwas, das außerhalb dieser Welt ist. Aber diese Person wird hier in dieser Welt getötet. Für die Hinterbliebenen ist das traumatisch. Eltern verlieren ihre Kinder, Kinder verlieren ihre Eltern und sie sind gezwungen, ihre Leben ohne die Ihren fortsetzen.
Thomas: Ja, es ist sehr traumatisch. Und wenn man einer Person gegenübersteht, die einen geliebten Menschen bei einem Attentat verloren hat, weiß man nicht mehr, was man sagen soll. Ich bin einmal einer Frau begegnet, die den Mord an ihrer Schwester vor Jahren mitansehen musste. Sie hat deswegen Ägypten verlassen und ist nach New York ausgewandert. Ihr Mann fand einen Job und alles schien auf gutem Weg zu sein. Aber der Mann arbeitete im World Trade Center ausgerechnet am 11. September 2001. Diese Frau hat zweimal eine geliebte Person aufgrund desselben Hasses verloren. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Es gibt keine Worte in einer solchen Situation. Es ist traumatisch.
"Sie sollen spüren, dass sie nicht allein in ihrer Trauer sind"
Die Mutter von zwei der 21 Ermordeten wurde kurz darauf vom Fernsehen befragt und sagte, dass sie vergeben habe, dass sie Gott lobe, der ihren Söhnen die Kraft gab, am Glauben festzuhalten. Wie kann eine Mutter denen verzeihen, die ihre Söhne enthauptet haben?
Thomas: Sie weiß, dass ihre Söhne in Ehren gehalten sind. Natürlich nimmt ihr das nicht den Schmerz. Es bleibt trotz allem ein Trauma. Deswegen sind spezielle Trauma-Heilungsprogramme erforderlich. Das Leiden zu tragen, bedeutet aber nicht, den Hass weiterzutragen. Und Schmerzen und Leiden auszudrücken, heißt nicht, dass ich Angst habe. Gott will nicht, dass wir unser Leben einfach wegwerfen. Aber wenn wir dem Martyrium ausgesetzt sind, nehmen wir es an. Auf der anderen Seite hängen Martyrium und Ungerechtigkeit aber immer zusammen. Wenn Menschen gemartert werden, ist dies ein Akt der Ungerechtigkeit. Und das ruft uns, die wir Zeugen des Martyriums werden, auf, uns mit aller Kraft dafür einzusetzen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird. Wir haben die Verantwortung, für die Gerechtigkeit zu arbeiten. Diese brutalen Morde müssen gestoppt werden.
Was tut die Kirche für diejenigen, die ihre Angehörigen bei Attentaten gegen Christen verloren haben?
Thomas: Zuerst kümmern wir uns um die Familien, spirituell und finanziell. Der Verlust eines Familienmitglieds kann eine finanzielle Katastrophe für die Hinterbliebenen bedeuten. Wenn wir dem nicht gerecht werden, sorgen wir nur für weitere Ungerechtigkeit. Zweitens begleiten wir die Familien so gut wir können mit Trauma-Heilung und Seelsorge. Sie sollen spüren, dass sie nicht allein in ihrer Trauer sind. Dann setzt sich die Kirche auch für Menschenrechte ein. Das ergibt sich zwangsläufig. Und schließlich versuchen wir, die Liebe unter den Menschen wiederherzustellen. Alle Menschen sind in den Kreislauf der Liebe und Vergebung eingebunden, auch die Mörder. Unser Kampf ist ein geistiger Kampf. Wir kämpfen mit Philosophie und Prinzipien.
Was bedeutet Vergebung?
Thomas: Vergebung ist ein Akt zwischen einem Individuum und Gott, nicht zwischen zwei Individuen. Der Täter ist in diesem ersten Schritt nicht eingebunden. Vergebung bedeutet, dass ich keinen Hass und keine Angst in meinem Herzen zulasse. Dies ist notwendig für den zweiten Schritt: Frieden und Versöhnung zu schaffen. Wir fordern Gerechtigkeit und beten für die Verfolger, dass sie verstehen und die Wahrheit der Menschlichkeit erkennen.
Seit zwei Jahren erlebt die westliche Welt den Aufstieg des Terrorismus. In Paris, Berlin, Nizza oder London wurden unschuldige Menschen getötet. Was könnte die Antwort der Kirchen im Westen sein? In ihrer Theologie kommt das Konzept des Martyriums nicht wirklich vor.
Thomas: Die Angst durchdringt zunehmend die westliche Gesellschaft. Genau das will der Terrorismus bezwecken. Aber diese Botschaft der Angst muss unterbunden werden. Das könnte eine starke Antwort der Kirchen an die Menschen sein. Wenn Angst eine Gesellschaft beherrscht, hat die Verallgemeinerung leichtes Spiel. Wenn ein Muslim einen Christen tötet, kommt schnell das Gefühl auf, dass alle Muslime schlecht sind. Aber das ist ungerecht. Und die Antwort auf das Martyrium kann nicht Ungerechtigkeit sein.
Die erwähnte Mutter und die 21 Männer, die vom IS getötet wurden, waren keine Theologen. Wie haben sie es geschafft, dieses philosophische Konzept des Martyriums in ihr Leben zu integrieren?
Thomas: Sie waren einfache Leute und haben ein einfaches Leben geführt. Aber sie sind mit der Idee des Märtyrertums aufgewachsen. Darin spielt die Verehrung der Heiligen eine wichtige Rolle. Das gab ihnen eine starke, spirituelle Basis. Ein einfacher Glaube braucht nicht viel Erklärung. In unseren Sonntagsschulen lehren wir keine schriftliche Theologie, sondern eine lebendige Theologie. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte der Koptischen Kirche, wo Menschen gemartert wurden, aber dennoch in Würde starben.
Vielleicht erinnerten sich die 21 an den Heiligen Georg, der sieben Jahre lang gefoltert wurde und dann als Held starb. Er wurde getötet, behielt aber seine Würde. Oder nehmen wir den Heiligen Irenäus, dessen Vater Polycarpus den Märtyrertod starb. Der Sohn schrieb über den Tod des Vaters, dass er mit Würde gestorben sei. Ich bin mir sicher, dass die 21 wussten, dass es eine Bedeutung hat, in Würde zu sterben. Oder nehmen Sie das Beispiel von Dolagie im dritten Jahrhundert. Ihre fünf Söhne wurden vor ihren Augen umgebracht, damit sie endlich Christus abschwört. Stellen Sie sich vor, ihre Kinder wurden auf ihrem Schoß abgeschlachtet! Jeder in der koptischen Kirche kennt Bilder, Geschichten und Sprüche von Märtyrern. Der Gedanke des Martyriums ist in die Herzen der Christen in Ägypten vom ersten Tag an eingepflanzt. Und wir alle wissen, dass es eine Geschichte ist, die nach wie vor lebendig ist.
Im Kontext der Verfolgung hat das Konzept des Martyriums eine gewisse Logik. Was aber passiert, wenn es keine Verfolgung mehr gibt wie zum Beispiel im Westen? Verliert die Idee des Märtyrertums dann automatisch ihre Bedeutung und ihre Funktion?
Thomas: Die westlichen Kirchen müssen nicht gekreuzigt werden, um die Bedeutung des Märtyrertums zu verstehen. Aber sie können uns helfen, das Kreuz zu tragen wie Simon von Kyrene. Er wurde nicht gefragt, ob er bereit ist, das Kreuz Jesu zu tragen. Er wurde einfach aus der Menge gegriffen und gezwungen, das Kreuz zu tragen, ohne dass er wusste, welcher Segen darauf liegt. Das Kreuz zu tragen kann zum Segen für die westliche Kirche werden. Unsere Verantwortung, für Gerechtigkeit einzutreten, geht über Nationen, Grenzen und politische Überzeugungen hinaus. Die Märtyrer schicken einen Schrei. Die Frage ist, ob wir ihn hören wollen oder nicht.
Die Autorin Katja Buck führte dieses Interview mit Bischof Thomas am 25. März 2017 im koptischen Retreat-Zentrum Anafora, das auf halbem Weg zwischen Alexandria und Kairo liegt. Das Interview erschien auf evangelisch.de am 14. April 2017.