Liebe Mitfastende,
ich hoffe, dass Sie eine gute Zeit verleben mit dem Verzicht auf Hast, auf möglichst schnelle Wunscherfüllung und prompte Befriedigung. Wir sind an der Hälfte des Weges angekommen, und vielleicht haben Sie schon ein paar gute Erfahrungen damit sammeln können, sich Zeit zu nehmen für sich, für Ihre Besinnung und bei Ihren Entscheidungen. Wie es üblich ist, werden bei einer längeren Übung die einzelnen Aufgaben anspruchsvoller. So soll es auch in dieser Woche sein, denn es kommt sozusagen ein weiterer Ball ins Spiel.
Schon in der ersten Fastenmail in diesem Jahr habe ich beschrieben, wie schwer es uns fällt, geduldig zu sein. Darauf zu warten, dass unser Hirn "Belohnung" signalisiert, empfinden wir als ausgesprochen schwierig, ja mitunter als qualvoll. Dabei ist es noch einfacher, wenn wir allein auf etwas warten. Richtig hart wird es, wenn wir zusehen müssen, dass andere schneller zum Zuge kommen als man selbst. In einer Schlange zu stehen, in der es eindeutig langsamer vorangeht als in der neben uns, kann uns sehr herausfordern. Zuzusehen, wie sich jemand in einer Schlange vordrängelt, kann uns unter Umständen richtig aufbringen. Denn unser Hirn signalisiert noch etwas anderes in diesem Moment: "Ungerechtigkeit!"
Der biblische Satz, der für diese Woche ausgesucht ist, entspringt auch einer solchen Situation. Viele Menschen haben gearbeitet. Einige den ganzen Tag, andere nur ein paar Stunden. Dennoch sind diese es, die zuerst ihren Lohn bekommen, und zwar genauso viel wie alle anderen. Der Satz stammt aus dem Munde Jesu. Er hat gerade ein Gleichnis von Arbeitern in einem Weinberg erzählt. Damit will er deutlich machen, dass es in Gottes Reich darum geht, mit anzupacken, nicht darum, wer am meisten schafft oder wer länger dabei ist. Doch dieser Spitzensatz am Schluss ist zu einer eigenen Redensart geworden. Meistens wird er verwendet, wenn jemand schlechter abschneidet als erwartet. Wenn man also zum Beispiel in der Schlange im Supermarkt lange gewartet hat, gerade den Einkauf auf das Band gelegt hat und in dem Moment eine weitere Kasse aufmacht. Ausgerechnet solch eine Situation nutzt Jesus dafür, von Gottes Gerechtigkeit zu reden! Die einen sind verärgert, die anderen werden etwas beschämt. Aber so ist das mit Gottes Reich: Wichtig ist, dass alle bekommen, was sie brauchen. Wichtig ist, dass der Stau sich auflöst, wichtig ist, dass alle ihren Einkauf erledigen können. Die Herausforderung, der wir uns also in dieser Woche gegenübersehen, ist, dass wir nicht nur mit unserer Geduld umgehen sollen, sondern dies auch noch, während andere schneller drankommen als wir. Wir müssen mit unserem Neid umgehen.
Das einzige Gegengift zum Neid ist das Gönnen. Wer anderen etwas gönnt, was man selbst nicht hat, schafft es, sich so in andere hineinzuversetzen, dass man die Freude der anderen empfinden kann. Um beim Beispiel der Supermarktkasse zu bleiben: Sicherlich hatten Sie auch schon einmal das Glück, dass gerade dann eine weitere Kasse geöffnet wurde, als Sie ankamen, und Sie wurden ganz schnell bedient. Das kleine Glücksgefühl in diesem Moment ist genau das, was diejenigen empfinden, in dem Moment, als Sie selbst zusehen müssen, wie die anderen flink vor Ihnen durch die neu geöffnete Kasse huschen. Der Trick dabei ist lediglich, dass Sie sich dieses Gefühl ins Gedächtnis rufen. Unser Hirn kann sich Gefühle ausgesprochen gut merken. Versuchen Sie es gleich einmal: Wie fühlt es sich an, unverhofft schneller dranzukommen als andere? Nun ist es freilich leichter, sich das ins Gedächtnis zu rufen, wenn man bequem sitzt und es gerade nicht eilig hat. Viel schwerer ist es, wenn man tatsächlich in der langsameren Schlange steht. Dennoch kann man es üben.
Anderen etwas zu gönnen, ist eine feine Kunst. Es ist die Voraussetzung für wahre Liebe. Wahre Liebe will nicht alles für sich selbst. Schon Paulus schreibt das in seinem Hymnus über die Liebe (1. Kor 13). Liebe gönnt. Mehr noch, sie freut sich für die anderen. Es ist das, was Jesus immer wieder fordert: "Freut euch an dem, was ihr bekommt, und freut euch ebenso an dem, was andere bekommen." Darum lautet mein Vorschlag an Sie für diese Woche: In allen Situationen, in denen Ihre Geduld gefragt ist, bleiben Sie in der Reihe. Wechseln Sie absichtlich nicht die Schlange im Supermarkt oder die Spur auf der Straße, sondern bleiben Sie und schauen Sie denen zu, die schneller drankommen als Sie. Rufen Sie sich dabei ins Gedächtnis, wie schön sich das anfühlt, und gönnen Sie es den anderen! Lächeln Sie ihnen ehrlich freundlich zu, damit sie nicht beschämt sein müssen.
Und wenn Sie noch eine echte Herausforderung haben möchten, gönnen Sie sogar den Schummlern und Vordränglern ihr schnelles Vorankommen. Wer weiß, wie viel Freude die Leute sonst empfinden können. In diesem Moment wenigstens sind sie irgendwie froh. Aber natürlich gilt hier wie immer: Überfordern Sie sich nicht! Gönnen Sie, so viel Sie können.
Ich wünsche Ihnen von Herzen eine gute Woche!
Ihr Frank Muchlinsky