Helmut Westhoff (80) lebte alleine in Berlin und bewohnte dort eine kleine Wohnung im vierten Stock eines Hauses ohne Aufzug. Ein Herzinfarkt und die Angst, alleine und hilflos auf sich selbst gestellt zu sein, haben in ihm den Entschluss reifen lassen, in die Nähe seiner Kinder ins Rhein-Main-Gebiet zu ziehen. Mit 77 Jahren zog Helmut Westhoff schließlich nach Hanau: In eine fremde Stadt mit einem neuen Umfeld und neuen Kontakten.
Auf ILEX, ein Projekt des Vereins zusammen-(h)-alt e.V. für gemeinschaftliches Wohnen in der Hanauer Weststadt, ist er durch Zufall gestoßen. Die Wohnung selbst habe schon alle Anforderungen erfüllt, die er an sein neues Heim gestellt hatte: Das Haus verfügt über einen Fahrstuhl und von seinem großen Balkon hat er einen schönen Blick über die Dächer der Stadt. Direkt gegenüber ist ein Supermarkt und mit dem Bus kann er schnell in die Hanauer Innenstadt und oder zu seiner Familie fahren, die in einem anderen Hanauer Stadtteil wohnt.
Außerdem habe Helmut Westhoff auf Anhieb gefallen, dass die Bewohner des Hauses regelmäßig miteinander ins Gespräch kommen können. Es biete ihm Sicherheit, dass jemand da ist, der ihn vermisse und der nachschauen könne, ob alles in Ordnung ist.
Einzelne Wohnungen auf Mietbasis
Bis zum Einzug der ersten Bewohner im Sommer 2013 war es allerdings ein langer Weg. 2007 hat alles begonnen, als sich einige Menschen nach einer Veranstaltung des Hanauer Seniorenbüros zusammentaten. Eine Initiativgruppe wurde gegründet, um ein Projekt für gemeinschaftliches Wohnen in Hanau auf die Beine zu stellen. Tatkräftige Unterstützung erhielt die Gruppe dabei vom Seniorenbüro der Stadt Hanau.
Die Initiativgruppe hat zunächst ein Konzept für das Zusammenleben entworfen. Wichtige Rahmendaten mussten abgesteckt werden, was zum Beispiel die Lage des Hauses, die Infrastruktur des betreffenden Stadtteils und die Größe der einzelnen Wohnparteien betraf. In diesem Zuge wurde auch der Verein zusammen-(h)-alt e.V. gegründet, der gemeinschaftliches Wohnen in Hanau fördern möchte.
2012 blieb eine Gruppe von 8 Personen übrig. Gemeinsam wurde ein Investor gesucht, der die Pläne umsetzen und ein Haus für das Projekt bauen könne. Die einzelnen Wohnungen sollten den Bewohnern auf Mietbasis zur Verfügung gestellt werden. So bleibe die Flexibilität erhalten, wenn sich doch jemand aus dem Projekt zurückziehen wolle.
Gerhard und Gudrun Löffler (beide 72) waren von Anfang an dabei. Bei der Gründung der Initiativgruppe hatten beide gerade erst ihren Ruhestand angetreten. Löfflers sind ein aktives Ehepaar. Das Wohnprojekt in Hanau sei für sie beide eine bewusste Entscheidung gewesen, um sich selbst zu entlasten und Zeit zu haben für die schönen und wichtigen Dinge im Leben.
"Zu zweit in einem großen Haus, das wollten wir beide nicht", sagt Gudrun Löffler. Sie finde es auch langweilig, immer nur etwas mit ihrem Mann zu unternehmen. Ihm gehe das genauso. Der Kontakt zu anderen sei ihnen wichtig. "Wenn man in der Gruppe fragt, ob jemand spontan Lust hat, am Abend gemeinsam Essen oder ins Theater zu gehen, da finden sich immer zwei oder drei Leute. Das schätze ich sehr", erzählt sie weiter.
"Wir würden es wieder tun."
Nicht nur das Aufeinander-achten, sondern auch das Miteinander sei wichtiger Bestandteil des täglichen gemeinschaftlichen Lebens in der Gruppe. Mindestens einmal im Monat treffe sich die gesamte Hausgemeinschaft. "Da sollte man nicht unentschuldigt fehlen", fügt Gudrun Löffler schmunzelnd hinzu. Einmal im Monat finde zudem auf freiwilliger Basis ein Brunch statt, ein Stammtisch, das Treffen der Frauengruppe und der "Digi-Treff", bei dem sich die Bewohner gegenseitig bei Problemen mit ihren Smartphones, Tablets und Computern unterstützen.
Zusätzlich zu den Treffen innerhalb der Hausgemeinschaft stehen noch Sitzungstermine für diverse Vereine und Organisationen an, bei denen einzelne Bewohner das Hanauer Projekt vertreten. Hinzu komme die Öffentlichkeitsarbeit des eigenen Vereins. Deshalb werde natürlich auch der Kontakt zur Nachbarschaft und zu anderen Wohnprojekten gepflegt.
Auch zu ihren alten Freunden und Nachbarn halten Löfflers weiterhin regen Kontakt. Beide engagieren sich zudem ehrenamtlich als Paten für geflüchtete Menschen. "Wir haben ein sehr ausgefülltes Leben, und das ist nicht nur auf die Wohngruppe beschränkt. Natürlich wird das auch alles in die Wohngruppe reingetragen. Ich erzähle zum Beispiel von unserer Flüchtlingsarbeit, die zum Teil ja auch hier im Haus stattfindet, ob die Leute das nun hören wollen oder nicht", erzählt Gudrun Löffler.
Der Umzug in das Hanauer Wohnprojekt sei für sie die richtige Entscheidung gewesen. Aber auch andere ältere Menschen würden sie zu diesem Schritt ermutigen. "Wenn die Wohnung kleiner und barrierefrei ist, bleibt man länger selbstständig", sagt Gerhard Löffler.
"Eine neue Familie"
Auch Wolfgang Osenbrügge (75) und seine Frau Irmela (79) waren von Anfang an dabei. Diese wollte zwar zunächst nicht ihren schönen Garten aufgeben, "in dem sie alles zum Blühen bringen konnte". Schließlich sei aber sogar sie die treibende Kraft gewesen – auch dann, als bei der Konzeptfindung und in Gesprächen mit Architekten und Bauleitern die Fetzen flogen.
Die Wege treppauf, treppab in ihrem Reihenhaus waren einfach zu weit geworden. Aber mit knapp 500 Metern Luftlinie hatten Osenbrügges immerhin die kürzeste Umzugsdistanz zu überwinden. Kontakt zu den alten Nachbarn bestünde aber trotzdem nicht mehr, sagt Wolfgang Osenbrügge. Der habe aber bereits vor dem Umzug gebröckelt.
Helga Heidgen (74) bedauert ihre Freunde und Bekannte, die darüber jammern, alleine und und unglücklich in ihrem großen Haus zu leben. Natürlich sei der Umzug für viele ein großes Hindernis, aber dadurch würden sie viele Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben im Alter verpassen.
Sie selbst habe Irmela Osenbrügge in der Volkshochschule kennengelernt und sei über sie auf das Projekt und die monatlichen Treffen der Initiativgruppe aufmerksam geworden. Sie habe weder Geschwister noch Kinder und der Rest ihrer Familie wohne zu weit entfernt. "Mein Leben lang war ich auf Reisen und habe dementsprechend wenige Kontakte. Im Projekt habe ich so etwas wie eine neue Familie", erzählt Helga Heidgen.
Besucher sind gerne gesehen
Sie habe auch die Verwaltung des Gästeappartements übernommen, wenn Freunde oder Familie der Hausbewohner ihren Besuch ankündigen. "Eines unserer Enkelkinder hatte Sorgen, wo sie jetzt schlafen kann, wenn sie uns besucht. In unserem Haus hatte sie immer ihr eigenes Zimmer", erzählt Gudrun Löffler. Da habe sie ihrer Enkelin natürlich das Gästeappartement angeboten.
Auch Helmut Westhoffs Berliner Freunde haben ihn bereits in Hanau besucht und im Gästeappartement übernachtet. Inzwischen haben sie seinen Entschluss, in die Nähe seiner Kinder zu ziehen, nachvollziehen können. "Die haben sich Sorgen gemacht, dass ich mich langweile zwischen den ganzen alten Leuten. Dabei bin ich doch der älteste hier", sagt Helmut Westhoff lachend.