Foto: epd-bild/Jürgen Blume
Der evangelische Militaerbischof Sigurd Rink.
Darf ich als Christ Soldat sein?
Interview mit Sigurd Rink zu 60 Jahre Militärseelsorge
Die Militärseelsorge der evangelischen Kirche feiert ihr 60-jähriges Bestehen. Militärbischof Sigurd Rink über den Alltag eines Militärpfarrers in den 1960ern, über das Vergeben von Schuld und wie die evangelische Kirche Einsatzrückkehrer noch mehr unterstützen will.
22.02.2017
JS-Magazin
Dorothea Siegle

In der neu gegründeten Bundeswehr trafen in den 1950er und 1960er Jahren Männer mit ganz unterschiedlichem Hintergrund aufeinander: Deutsche, die vom Nationalsozialismus profitiert hatten – sogar Mitglieder der Waffen-SS – und solche, deren Familien Opfer des Regimes geworden waren. Auch unter den evangelischen Pfarrern gab es Täter und Mitläufer; und solche, die Widerstand geleistet hatten. Wie war die Situation zu Beginn in der Evangelischen Militärseelsorge?

Sigurd Rink: Es hat Konflikte gegeben, aber ich weiß wenig Details. In meiner Heimatkirche Hessen-­Nassau gab es für die Pfarrer das, was wir heute als Rüstzeiten haben. Das hieß, die Pfarrer mussten sich jedes Jahr für 14 Tage mit ihrem Vorgesetzten zurückziehen und wurden "nachgeschwärzt". Wenn ein Pfarrer also im "Dritten Reich" bei den regimetreuen Deutschen Christen gewesen war, wurde er sozusagen "auf Spur gebracht" für die Demokratie.

Auch in der evan­gelischen Kirche waren Männer Mangel­ware. Und wenn sich einer bewarb und die fachliche Qualifikation hatte, dann wurde er genommen. Das gilt auch für die Militärseelsorge.

Haben Sie das Gefühl, die Kirche hat das ausreichend aufgearbeitet?

Rink: Die Kirche hat einiges ge­leistet, aber zur Geschichte der Mili­tärseelsorge gibt es noch nicht ganz so viel – das habe ich mir, ehrlich ge­sagt, als Rentenprojekt vorgenommen, ich bin ja selbst auch Zeithistoriker.

Wie sah der Alltag eines evangelischen Militärpfarrers in den 1960er Jahren aus?

Rink: In vielfältiger Hinsicht sehr anders als heute. Zum einen ist die Anzahl der Standorte inzwischen stark ab­gebaut worden. Das heißt, die Militär­pfarrer waren früher in der Regel an einem Standort, auf den sie sich kon­zentrieren konnten, während sie heute mehrere Standorte betreuen. Das Zweite: Die 1960er Jahre waren ja noch nicht das Zeitalter der Massenmotori­sierung. Wenn die Leute unterwegs waren, musste auch mal das Moped herhalten oder der VW Käfer – ganz anders als heute mit einem modernen Fuhr­parkmanagement. Und das Dritte, der größte Unterschied ist, dass die Bundes­wehr damals keine Einsatzarmee war und von daher in einem ganz anderen Setting gearbeitet hat; in einer sehr klaren, überschaubaren, aber natür­lich auch harten Ost­-West­-Konfron­tation, bei der jeder wusste: Da ist die Grenze, da ist die DDR, da ist die UdSSR. Das war eine ganz andere Grundstimmung als heute, wo man am Standort zu Hause eigentlich ein Gefühl der großen Sicherheit  hat. Während umgekehrt das Einsatz­geschehen schwierig und belastend ist.

"Die Gottes­dimension, die findet man nur in der Seelsorge"

Wie verbringt ein Militärpfarrer seinen Arbeitstag?

Rink: Der Alltag am Standort ist wirk­lich der Alltag mit der Truppe. Die Militärpfarrerinnen, die Militärpfarrer starten früh, so ab sieben Uhr. Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass mit dem Dienstschluss der Soldaten auch der Militärpfarrer Feier­abend hat, weil natürlich insbesondere Seelsorgegespräche auch danach stattfinden. Von daher ist es schon ein langer Tag. Außerdem gibt es noch Rüstzeiten, oft auch an Wochenenden, auf die die Militärpfarrer mit den Soldaten fahren. Und ganz anders ist der Alltag im Einsatz. Das ist dann das, was man 24/7 nennt, wie bei den Soldatinnen und Soldaten auch. Wenn die Gefährdungslage es nicht zulässt, dass man aus dem Feldlager rauskommt, dann spielt Seelsorge eine ganz besondere Rolle. Da ist der Militärpfarrer dann wirk­lich permanent präsent.

Was können Pfarrer, was Sozialarbeiter oder Psychologen nicht können?

Rink: Ich nenne mal ein praktisches Beispiel: In Seelsorgegesprächen äußern Menschen häufig den Wunsch, dass sie am Ende einen Segen empfangen wollen. Das ist eine ganz starke Geste, die kein Therapeut geben könnte. Das Zweite, was wichtig und ein Allein­stellungsmerkmal ist, dass im Ge­spräch mit dem Seelsorger durch das gesetzlich verbriefte Beichtgeheimnis eine absolute Vertraulichkeit gewähr­leistet ist. Je nach Szenario muss der Truppenpsychologe, wenn bei einem Soldaten eine Fremd-­ oder Selbstge­fährdung vorliegt, dem Kommandeur berichten. Kann ich auch gut verste­hen. Das gilt aber eben nicht für den Pfarrer im Vieraugengespräch.

Und schließlich geht es beim Soldaten­beruf häufig um das Themenfeld Beichte, Schuld und Vergebung.  Auch da sagen uns Psychologen und Psychotherapeuten, dass das eine Kate­gorie ist, mit der sie im Gesprächsprozess nicht arbeiten. Die schlichte Zusage im Seelsorgegespräch: "Dir sind deine Sünden, dir ist deine Schuld vergeben" im Namen Jesu Christi – diese Gottes­dimension, die findet man nur in der Seelsorge.

Zum Thema Schuld. Das fünfte Gebot lautet: Du sollst nicht töten. Darf ich als Christ überhaupt Soldat sein?

Rink: Die Frage ist so alt wie das Christen­tum selbst. In den ersten drei Jahr­hunderten des Christentums, in denen Christen verfolgt wurden, hat man gesagt: Ein Christ kann nichts mit einem weltlichen Beruf zu tun haben und schon gar nicht mit dem Soldatenberuf. Das hat sich im Laufe des vierten Jahrhunderts verändert, als das Christentum erlaubt und dann sogar Staatsreligion wurde. Dann war klar: Auch Christen können Soldat sein. Aus der heutigen Warte gespro­chen: Es kann in extremen Situatio­nen dazu kommen, dass eine Gewalt­anwendung nötig wird, um eine noch größere Gewalt zu verhindern. Das darf nie leichtfertig geschehen, es muss vor dem Hintergrund der eigenen Verantwortung, des eigenen Amtes passieren. Aber es kann geschehen. Die Vereinten Nationen nennen das "Responsibility to Protect" (Verantwortung zu schützen).

Martin Luther hat das in seiner "Kriegsleute­schrift" ganz schön gesagt: Wenn es um mich als Christ, als einzelne Person geht, so muss ich die Gewalt erleiden. Aber im Soldatenberuf geht es um den Schutz des Landes, den Schutz der Menschen, um den Schutz von Grund­ und Freiheitsrechten. Und selbst dann darf ich Gewalt immer nur aus der Haltung der Verteidigung ausüben und nie aus der Haltung der Aggression heraus. Ich denke mir manchmal, wenn die Menschen das in den letzten 500 Jahren ein bisschen beherzigt hätten – dass sich jeder wirklich defensiv und auf sein Territo­rium, auf die Menschen, die ihn umgeben, beschränkt – dann wäre uns viel erspart geblieben.

"Häufig ist es das Bier am Abend, bei dem Menschen auf einen Militärpfarrer zukommen"

Jetzt sagen Sie auch: Wenn ich als Soldat jemanden im Gefecht töte, mache ich mich schuldig. Ich weiß, dass manche Soldaten Schwierigkeiten haben, das zu akzeptieren, weil sie sagen: Ich gehe im Auftrag der Gesellschaft, des Bundestags, in den Einsatz. Und dann soll ich mich als Individuum schuldig fühlen, wenn ich jemanden töte, für einen Auftrag, den die Gesellschaft mir gegeben hat? Wie antworten Sie?

Rink: Es geht nicht darum, einem Menschen einen Vorwurf zu machen. Sondern der Punkt ist: Als Soldat bin ich in einem moralischen Dilemma. Lasse ich Unrecht geschehen, geschieht unheimlich viel Leid. Greife ich ein und verletze oder töte einen Menschen, mache ich mich an diesem Menschen schuldig. Denn ein Mensch verliert sein Leben oder wird für sein Leben verwundet. Aus diesem Dilemma komme ich als Soldat nicht heraus. Die Erfahrung des moralischen Schuldempfindens kommt ja nicht  daher, dass ich sage: "Du, Hans Müller, bist ein schlechter Mensch, was hast du getan?" Sondern die kommt daher, dass Soldatinnen und Soldaten selbst häufig nicht mit dem Töten zurecht­kommen. Häufig ist es das Bier am Abend, bei dem Menschen auf mich oder einen Militärpfarrer zukommen und sagen: 'Es gibt da eine Situation, mit der ich überhaupt nicht zurecht­komme.' Das kann einen Jahre später heimsuchen. Aus der Genera­tion, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat, haben viele geschwiegen. Die haben das mit ins Grab genommen. Menschen sind für Kriege nicht gemacht, selbst wenn sie sich noch so hart und männlich geben – es bleibt etwas zurück.

Die Militärseelsorge hat ein Seelsorgeprojekt für Einsatzrückkehrer. Rund 60 Seminare bieten Sie im Jahr an, etwa für körperlich verwundete Soldaten, für Hinterbliebene, für Soldaten mit PTBS (Posttraumatischer Belastungsstörung), für Paare, für Familien. Die Zahl der PTBS-Erkrankten steigt stetig. Müssten Sie Ihre Mittel für das Seelsorgeprojekt nicht verdoppeln und 120 Seminare pro Jahr anbieten?

Rink: Ganz konkret: Wir hatten 2016 für das Projekt 306.000 Euro. Ab 2017 haben wir das Budget verdoppelt, es stehen uns nun 600.000 Euro zur Ver­fügung. Diese Arbeit – auch für ehe­malige Soldaten, die schon länger aus der Bundeswehr ausgeschieden sind, ist so wichtig, dass wir gesagt haben: Wir müssen da noch mal Gas geben.

Können Sie ein Projekt schildern, das es aus Ihrer Sicht wert ist, deutlich stärker finanziell unterstützt zu werden?

Rink: Es gibt viele wertvolle evangelische Initiativen, und ein Teil unseres Budgets aus den Kirchensteuermitteln der Sol­daten geht zum Beispiel an Brot für die Welt. Wir unterstützen auch bilateral bestimmte herausragende Projekte. Ein Beispiel ist die Diakonie Kosova. Der ehemalige Geschäftsführer der Diako­nie in Trier lebt im Kosovo und hat drei Dinge entwickelt: Eine große Werkstatt für Jugendliche in Mitrovica, in der sie in ganz verschiedenen Disziplinen – Elektriker, Maurer, Innenausbau – aus­gebildet werden. Zweites Projekt: Im Krisengebiet gibt es keinerlei Unterstüt­zung für beeinträchtigte, behinderte Menschen, die fallen durch sämtliche Raster. Für die hat Diakonie Kosova ein landwirtschaftliches Projekt mit Hüh­nerfarm und Ähnlichem auf gesetzt, in dem Menschen mit Behinderung leben und arbeiten können. Und schließlich ein Jugendzentrum in Mitrovica an dem Fluss, der den serbischen und  den albanischen Teil der Stadt trennt. In dem Zentrum begegnen sich junge Menschen der unterschiedlichen Be­völkerungsgruppen. Das sind für mich Zeichen der Hoffnung.

"Bei den Kleinwaffen tragen wir ein hohes Maß an Verantwortung"

Und was wünschen Sie sich auf der politischen Ebene?

Rink: In der Tat wäre der Wunsch von uns an die Politik: Wenn der Ver­teidigungshaushalt stabilisiert oder sogar erhöht wird, dass das dann auch die Entwicklungszusammenarbeit und Projekte stärkt, die in Krisenregionen den Wiederaufbau fördern. Wir haben gesehen, was passiert, wenn das nicht geschieht und die Menschen ohne jede Perspektive zurückbleiben – Beispiel Libyen.

Die Bundeswehr engagiert sich in Ausbildungsmissionen wie im Nordirak. Dort bildet sie kurdische Kämpfer aus. Und das heißt auch: Die Bundesrepublik liefert Kleinwaffen wie das G36 in ein Krisengebiet. Den Verbleib der Waffen kann sie nicht kontrollieren. Wie bewerten Sie dieses Dilemma?

Rink: Es hieß ja immer: Niemals Waffen in Krisenregionen exportieren, niemals an kriegführende Parteien – das hat sich jetzt geändert. Die Motivation, die dahintersteht, ist klar: Man hat nach dem ungeheuren Preis, den der Afghanistaneinsatz in jeder Hinsicht gekostet hat, gesagt: "Boots on the Ground" (Bodentruppen) können nicht mehr die Taktik sein, stattdessen müssen wir die örtlichen, regionalen Kräfte stärken. Die Grundrichtung verstehe ich, aber die bange Frage ist: Wo sehen wir die mehr als 20.000 gelieferten Sturm­gewehre wieder? Auch der Konflikt in Afghanistan wurde ja unter anderem dadurch aufgeheizt, dass die Taliban in früheren Zeiten durch andere unterstützt und ausgebildet worden waren. Bei den Kleinwaffen, bei denen Deutschland weltweit mit führend in der Exportstatistik ist, tragen wir ein hohes Maß an Verantwortung. Bei diesen Waffenexporten habe ich wirklich Bauchschmerzen.

Dieses Interview erschien zuerst in der Ausgabe Februar 2017 des JS-Magazins der evangelischen Militärseelsorge.