Die evangelikale Familie ist ein Schlachtfeld. Wer sich in der evangelikalen Bewegung zur Familie positioniert, rührt an Grundfragen. Jetzt haben sich zwei Nachwuchswissenschaftler zu Wort gemeldet, Tobias Faix und Tobias Künkler. Beide sind Professoren an der Hochschule des CVJM in Kassel. Und als erste haben sie für ihre Studie "Zwischen Furcht und Freiheit" Daten und Fakten zum evangelikalen Familienleben erhoben und ausgewertet: Wie gehen die "besonders intensiv evangelischen Christen" – so hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Evangelikalen genannt – zuhause miteinander um, und wie geben sie ihren besonders intensiven Glauben weiter?
Im Dezember 2016 war das Schlachtfeld Familie für wenige Tage öffentlich sichtbar. Hartmut Steeb, der Generalsekretär der Evangelischen Allianz, bezeichnete ein Verständnis für andere Formen als die klassische Familie – ohne Trauung, ohne Kinder oder mit Partnern des gleichen Geschlechts – im Internet als "Gefühlsduselei". Man müsse ihr biblische Lehre entgegensetzen. Der damalige Vorsitzende der Allianz, Michael Diener, wies Steeb ebenfalls im Netz zurecht: Das sei keine Verlautbarung der Evangelischen Allianz. Man könne für die Familie aus Vater, Mutter und Kindern eintreten, ohne, wie Steeb, andere Beziehungsformen zu verurteilen. Steeb solle sich fragen, wie seine Äußerungen auf Menschen wirkten, die ungewollt kinderlos blieben "oder auf Singles, wie wir sie zu 30 Prozent und mehr auch in der evangelikalen Lebenswelt haben." Diener empfahl "Zurückhaltung dabei, die eigenen Erfahrungen auf die pluralen biblischen Texte zu übertragen". Als der Informationsdienst idea über die Kontroverse berichtete, verschwand Steebs Stellungnahme ebenso aus dem Netz wie Dieners Kommentar. Schließlich wurde auch die idea-Nachricht gelöscht. (Anmerkung der Redaktion: Die Beteiligten hatten sich gemeinsam darauf geeinigt, den öffentlichen Meinungsaustausch zugunsten einer internen Klärung nicht weiter öffentlich zu zeigen, siehe dazu auch diesen Facebook-Post von idea vom 5. Dezember 2016).
Der kurz veröffentlichte Schlagabtausch zeigte, wie heftig die Auseinandersetzung tobt. Er zeigte auch: Das Familienbild innerhalb der Bewegung ist vielfältiger, als es ihre Publizistik spiegelt.
Auf dem evangelikalen Schlachtfeld Familie werden Fehden um das Verständnis der Bibel ausgefochten. Es geht um Macht und um Angst: Behalten Konservative mit ihrer Furcht vor der Freiheit und einem geschlossenen Weltbild ihre Deutungshoheit? Oder bricht sich ein Verständnis Bahn, das die Vielfalt und Offenheit der Bibel zum Vorbild nimmt, so wie es in langen Jahrzehnten der Evangelischen Allianz der Fall war? Konservative halten das autoritäre Familienkonzept der Vor- und Nachkriegszeit für biblisch und daher einzig legitim. Wer davon abweicht, ist der Heiligen Schrift ungehorsam. Damit haben sie Einfluss aufgebaut und ihre Gemeinschaften zu steuern versucht, länger als das in den Volkskirchen und in der Gesellschaft möglich war. Damit haben sie aber auch die evangelikale Bewegung an den Rand der – aus ihrer Sicht feindlichen – Gesellschaft geführt. Das wirkt zurück: In den Medien steht die evangelikale Bewegung unter Fundamentalismusverdacht.
Längst wird unter dem Stichwort "Gender" gesellschaftlich diskutiert, wie festgelegt und wie offen Geschlechterrollen sind. In der evangelikalen Öffentlichkeit zeigt sich das Wort "Gender" selten ohne den Zusatz "Ideologie", "Wahn" oder "Gaga". Darüber gerät die Bewegung in Gefahr, ihre jungen Generationen zu spalten. Der Kampf um das Verständnis der Bibel setzt Eltern und Kinder unter Druck.
Das Buch von Künkler und Faix zeigt, wie evangelikale Familien tatsächlich leben und wie sie zwischen den Erwartungen ihrer Meinungsführer, der Beharrungskraft ihrer Tradition, den Spannungen der Gesellschaft und ihrem eigenen Bild von Gott meist kreativ und manchmal ratlos ihren Weg finden.
Evangelikale Familien scheinen konservativer zu denken als der Durchschnitt. Aber die Gender-Debatte hat auch sie erreicht. Sie suchen nach neuen Modellen des Zusammenlebens. Väter kümmern sich stärker als je um Kinder. Und mehr denn je wird in Familien über den Glauben gesprochen. Eine immer noch zu große Minderheit, vor allem in Freikirchen, findet Gewalt in der Erziehung unvermeidlich oder sogar richtig. Viele Eltern wollen ihren Kindern dabei einen liebenden und nicht zuerst einen strafenden Gott vermitteln. Die Mehrheit wendet sich von der traditionellen Erziehung ihrer Eltern ab.
Evangelikale sind meist "homogam"
Bei der Weitergabe des Glaubens geraten auch evangelikale Familien an Grenzen. Die Autoren haben herausgefunden, "dass die Eltern ihrem Kind liebevoll ihren Glauben aufdrücken wollen". Evangelikale Partner streiten selten um den Glauben. Vielleicht deshalb erscheint die gesamte Bewegung insgesamt eher geschlossen. Wer einen Partner sucht, hält meist im eigenen Glaubensmilieu Ausschau. Die beiden Autoren nennen das "Homogamie". Doch die Geschlossenheit ist zerbrechlich. Wechselt ein Partner die Konfession, wächst der Streit. Auf die Vielfalt des Glaubens, der ihre Kinder begegnen, hat die Bewegung wenig Antworten außer der Abgrenzung entwickelt. Das sexualmoralische Leitbild "Kein Sex vor der Ehe" zerreibt sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Den Eltern bleibt ein schlechtes Gewissen. Im Blick auf den Umgang mit Homosexualität geben evangelikale Kirchen, Gruppen und Gemeinschaften ihre Hilflosigkeit an die Familien weiter. Und beschwören schnell einen Dammbruch: Weil Familien nicht mehr mit Leben füllen, worüber sich die Führungsebenen – meist unterschwellig – streiten.
Wollen evangelikale Organisationen ihren Familien helfen, sollten sie den Stellvertreterkrieg um das Verständnis der Bibel befrieden und ihre Abgrenzung überdenken gegenüber der Gesellschaft, die sie umgibt. Tatsächlich folgt die Bewegung nach einigen Jahren ohnehin den Veränderungen in Kirchen und Gesellschaft. Ihren Organisationen ist zu wünschen, dass sie den unvermeidlichen Wandel im Willen zu versöhnter Verschiedenheit gestalten. Und dass sie zusammen mit Familien und jungen Generationen darüber nachdenken, wie evangelikale Christen in ihrer Gesellschaft leben, sie akzeptieren und sie mitgestalten können. Dazu leistet die Forschung von Tobias Künkler und Tobias Faix einen Beitrag, um weitere Schritte zu gehen von der Furcht in die Freiheit.