Als Sat.1 im Frühjahr 2015 den Film "Einstein" gezeigt hat, brachte der Stoff alles mit, was eine gute Serie braucht: zwei sehenswerte Hauptdarsteller, viele originelle Ideen, eine flotte Inszenierung und großes Potenzial für weitere Geschichten. Der Auftritt des genialen, unheilbar kranken Wissenschaftlers, der an einer Lösung aller Energieprobleme arbeitet und unfreiwillig zum Polizeiberater wird, war jedoch nicht als Pilotfilm konzipiert; dabei sprach alles für eine Fortsetzung. Nun ist sie da, und im Wesentlichen hält sie, was der Neunzigminüter versprochen hat: "Einstein" ist die flotteste deutsche Serie seit langem. Geschichten und Machart folgen exakt dem Muster, das Thomas Jahn (Regie und Kamera) schon im Film vorgegeben hat: Ein brillanter und dazu noch ausgesprochen gutaussehender Wissenschaftler (Tom Beck) steht der Polizei bei besonders verzwickten Fällen als Berater zur Seite; eine Ausgangsposition, die wie das Muster einer amerikanischen Serie wirkt. Das gilt auch für die etwas klischeehaften Vertreter der Polizei: Die attraktive Kommissarin Elena Lange (Annika Ernst) ist rothaarig, weitaus cleverer als ihr Vorgesetzter und die einzige Frau weit und breit, die beim Anblick von Felix Winterberg (Beck) keine weichen Knie bekommt. Ihr Chef Tremmel (Rolf Kanies) ist nicht ganz der kluge Kopf, für den er sich selber hält, sitzt aber am längeren Hebel und hat den Professor in der Hand, weil Winterberg, wie in den ersten drei Folgen jedes Mal aufs Neue erklärt wird, beim Drogenkauf erwischt worden ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Hauptfigur ist dagegen derart atypisch fürs hiesige Fernsehen, dass die Schlichtheit der weiteren Mitwirkenden kaum ins Gewicht fällt: Der begnadete Physiker ist ein unehelicher Ururenkel von Albert Einstein und so genial, dass er die Denkprozesse seiner Mitmenschen vermutlich wie in Zeitlupe wahrnimmt. Allerdings leidet Winterberg, auch diese Information gibt es in jeder Folge, unter der unheilbaren Erbkrankheit Chorea Huntington; in wenigen Jahre wird sein Gehirn beginnen, sich zu zersetzen. Im Film waren es sieben, zum Serienauftakt sind es acht Jahre; offenbar hat Sat.1 noch Einiges mit der Figur vor. Die Vorgabe liefert natürlich die perfekte Begründung für die enorme Geschwindigkeit, die Jahn immer wieder anschlägt: Tom Beck ist ohnehin ein darstellerischer Tempodribbler; als Genie, dem die Zeit davon läuft, dreht der Schauspieler auf, als würde nicht nur seine Figur regelmäßig Amphetamine einwerfen. Winterberg ist tagsüber Professor an der Uni Bochum und verbringt die dank der Aufputschmittel schlaflosen Nächte mit der Suche nach einer Weltformel, um die Energieprobleme der Erde zu lösen. Hin und wieder nimmt er sich aber auch Zeit für eine seiner hübschen Studentinnen. Zur mutmaßlichen Freude der Zuschauerinnen darf Beck ab und an seinen gut trainierten Körper zeigen. Weil die Menschen in der Umgebung des Physikers nicht annähernd so schnell denken wie er, zeichnet sich Winterberg durch eine gewisse Neigung zur Arroganz aus. Aber natürlich muss das Hirn auch ein Herz haben, deshalb gibt es immer wieder Szenen mit dem kleinen Sohn der Kommissarin, der einen Herzfehler hat; der Junge ist der einzige Mensch, dem das Genie seine Zeit schenkt.
Spektakuläres Finale
Für die Regie ist die Konstellation insgesamt dankbarer als für die Autoren: Mitunter ist die Schnittfrequenz gerade im Vergleich zum Durchschnittstempo deutscher Serien fast schon atemberaubend. Ähnlich agil ist Jahns Arbeit mit der Kamera. Die aufwändige Bildgestaltung kaschiert geschickt, dass "Einstein" überwiegend aus Innenaufnahmen besteht. Die Drehbücher können bei einer derartigen Virtuosität kaum Schritt halten. Angesichts der Brillanz des Helden müssten die Geschichten eigentlich vor ganz anderem Hintergrund spielen: Jemand wie Winterberg sollte keine Verbrechen in Bochum klären, sondern sich mit Superschurken auf der ganzen Welt messen. Die Herausforderung für Matthias Dinter und Martin Ritzenhoff, die auch den Pilotfilm geschrieben haben, war nicht leicht: Für die üblichen Krimigeschichten ist Winterberg mehr als eine Nummer zu groß; er braucht Fälle, die seiner Brillanz auch würdig sind. Im Grunde müsste sich das Autorenduo für jede einzelne Folge ein nahezu perfektes Rätsel ausdenken, das tatsächlich nur von einem Genie gelöst werden kann. Zu Ende gedacht, heißt das allerdings: Die Drehbücher müssten ebenfalls genial sein; eine Hürde, die kaum zu nehmen ist.
In der ersten Folge, "Ballistik", steht die Polizei vor einem Rätsel: Im Freibadbecken schwimmt ein toter Software-Entwickler, der mitten im Sprung erschossen worden ist. Sein Unternehmen hat eine höchst lukrative Erefindung gemacht. Die Kompagnons wollen die Firma für viel Geld verkaufen, der tote Teilhaber war jedoch dagegen. Die jungen Männer sind somit automatisch verdächtig, zumal einer der beiden von Tim Oliver Schultz verkörpert wird, der als Anführer des Ensembles aus "Club der roten Bänder" unter anderem mit dem Grimme-Preis geehrt worden ist. Ein ganz gewöhnlicher Krimifall also; ungewöhnlich sind allein die Tathergänge, denn dem ersten Mord folgen noch weitere Anschläge. Einer davon ist gewissermaßen ein Cybercrime: Die Software eines Autos wird gehackt, die Bremsen blockieren bei voller Fahrt; das gab es genauso zuletzt in "Echolot", einem "Tatort" aus Bremen. Am Ende soll Winterberg auf die gleiche Weise beseitigt werden wie das erste Opfer, was der Folge ein vergleichsweise spektakuläres Finale beschert. Allerdings brüstet sich der Mörder solange mit seiner Cleverness, bis Rettung naht; auch das ist ein eher schlichtes Krimiversatzstück.
Vektoren und Formeln schießen durchs Bild
"Einstein" ist immer dann am faszinierendsten, wenn Winterberg angewandte Physik einfließen lässt und die Kommissarin zum Beispiel auffordert, durch mehrere mit Wasser gefüllte Ballons hindurch auf ihn zu schießen. Er will verdeutlichen, dass das Opfer schon tot gewesen sein muss, bevor es ins Wasser eintauchte. Trotzdem ist Winterbergs Mitwirkung bei der Aufklärung des zweiten Falls plausibler, denn in "ABC" stirbt ein Uni-Kollege: Der Professor ist mit Tritium vergiftet worden. Verdächtig sind diesmal diverse attraktive Studentinnen, die sich möglicherweise für schlechte Benotungen gerächt haben. Jahn unterlegt in dieser Folge Schnitte gern mit Geräuschen und peppt eine stinknormale Vernehmungsszene auf, indem er die Kamera rasch hin und herschwenkt; einfach, aber wirkungsvoll. Und wenn es mal nicht die Bildgestaltung ist, die für Dynamik sorgt, dann erledigt das Karim Sebastian Elias mit seiner Musik.
Ähnlich reizvoll ist die Arbeit mit den visuellen Effekten: Wenn Winterbergs kleine grauen Zellen auf Hochtouren arbeiten, schießen Vektoren und Formeln durchs Bild. Und weil er ein eidetisches Gedächtnis hat, sind die Rückblenden ausnahmsweise kein dramaturgisches Hilfsmittel, sondern die Visualisierung der Aufnahmen, die vor seinem geistigen Auge ablaufen. Eher unnötig sind dagegen die Slapstick-Einlagen: Mal läuft der Physiker gegen eine Glastür, mal haut ihm die beleidigte Elena eine Tür an den Kopf. Viel besser sind die Dialoge, in denen Dinter und Ritzenhoff ganz viel Wissenschaft unterbringen. Für das Verständnis der Handlung sind die Abschweifungen oft nicht nötig, zumal die meisten Zuschauer allenfalls die Hälfte verstehen werden, aber das ist in Arztserien nicht anders. Viel wichtiger ist, dass Beck die Ausführungen vorträgt, als wisse er, wovon er spricht. Ähnlich glaubwürdig ist der gelegentliche schwarze Humor der Figur. Stoff dafür liefert vor allem Folge drei, die damit beginnt, dass ein Mann vom Himmel fällt und die hässliche Bulldogge eines ähnlich unansehnlichen Neonazis plättet. Später stellt Winterberg mit seinen Studenten den Absturz nach, indem er mit Wasser gefüllte Sexpuppen aus einem Flugzeug auf einen Golfplatz fallen lässt, was Jahn sehr witzig inszeniert. Im Unterschied zu vielen anderen neuen Produktionen verzichtet "Einstein" auf eine horizontale Erzählebene, jede Folge ist in sich abgeschlossen. Es gibt durchgehende Aspekte, aber nicht in Form eigener Handlungsstränge; das ist ein bisschen schade. Spaß macht die Serie trotzdem, und bei Sat.1 ist die intelligente Mischung aus Krimi und Komödie auch gut aufgehoben.