Früh morgens beginnt Franklin mit der Arbeit. Er melkt seine sieben Kühe, füllt ihre Milch in Kannen und schnallt sie auf Esel. Dann legt er die halbe Stunde von seinem Hof zur Käserei in Salinas zurück. Dort schütten zwei Arbeiter die gut 50 Liter in einen Behälter und notieren die Menge. Franklin, 38 Jahre, Gummistiefel, blauer Wollpullover, steht wachsam daneben.
Beinahe jeder der rund 1.000 Einwohner des ecuadorianischen Andendorfes gibt hier seine Milch ab, manche zehn, manche 50, manche über 200 Liter am Tag. Bis zu 6.000 Liter aus kleinbäuerlicher Produktion kommen so zusammen, das sind je nach Sorte mehrere hundert Kilo Käse am Tag. Die Milch wird zu Tilsiter, Gruyère, Gouda oder Andino verarbeitet – und unter der Marke Salinerito in ganz Ecuador verkauft.
Das abgeschiedene Dorf in rund 3.500 Metern Höhe gilt heute als Paradebeispiel gelungener Entwicklungshilfe. Dem Kerndorf sind rund 30 zum Teil winzige Siedlungen mit insgesamt 10.000 Einwohnern angeschlossen, von 800 bis 4.200 Metern Höhe. Aus der Milch wird auch Schokolade. Die dorfeigene Spinnerei verarbeitet die Wolle der Schäfer. In niedrigeren Lagen dominiert Ackerbau: Mais, Bohnen, Kartoffeln, Zuckerrohr. Die Wertschöpfung bleibt im Dorf.
Salinas ist als Kooperative organisiert, alle Produktionsstätten sind Gemeinschaftsbesitz. In Räten wird über Standards, Löhne und Neuanschaffungen entschieden. Auch einen fixen Milchpreis hat die Kooperative festgelegt. In der Käserei im Kerndorf liegt er bei 44 Dollar-Cent je Liter. Den Bauern garantiert das ein festes Einkommen unabhängig von Produktionsschwankungen.
Der Wandel ist gewaltig. Noch vor 50 Jahren übte hier die kolumbianische Großgrundbesitzer-Familie Cordovez ein brutales Regime aus. Das Land hatte sie Ende des 19. Jahrhunderts von Ecuadors Regierung bekommen – die dort lebenden Indigenen und Mestizen inklusive.
Don Samuel Ramírez, der Dorfälteste, hat diese Zeiten noch erlebt. Schon als kleiner Junge musste er seiner Mutter in der örtlichen Salzmine helfen, für 20 Cent am Tag. "Das Leben war hart", erzählt der 75-Jährige: Kein Strom, kein fließendes Wasser, zwei von fünf Kindern starben. 92 Prozent Analphabeten.Vergewaltigungen durch die Landbesitzer. Öffentliche Auspeitschungen. Erschießungen.
In dieser Zeit gelangten auf Betreiben des damaligen Bischofs der Provinzhauptstadt Guaranda zwei italienische Entwicklungshelfer nach Salinas: der katholische Priester Padre Antonio Polo und Beppo Tonello. "Um die Leute zu überzeugen, dass wir ernsthaft etwas verändern wollten, mussten wir mitarbeiten", erzählt der 70-jährige Tonello heute. Es habe Jahre gedauert, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.
Die Großgrundbesitzer hätten "schnell verstanden, dass wir ihre Feinde sind", erinnert sich Tonello, erzählt von Prügeln und Sabotage. Die Frage sei damals gewesen: "Gehen wir den Weg des Friedens oder den der Gewalt?" Geleitet von den Ideen der päpstlichen Enzyklika "Populorum progressio" Pauls VI. von 1967, die weltwirtschaftliche Gerechtigkeit als Bedingung für Frieden definierte, entschieden sie sich für gewaltlosen Widerstand.
Bald bekam das Projekt Hilfe aus dem Ausland. Das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt gab einen ersten Kredit. Tonello ging in die Hauptstadt Quito und wurde Gründungsdirektor der Mikrokreditanstalt FEPP. Mit deren Geld kauften die Bewohner von Salinas den Großgrundbesitzern schließlich jenes Land ab, das sie faktisch seit Generationen bewohnten.
"Unser Vorschlag war dann, die Kooperative zu gründen: Schafe und Kühe zu kaufen und nicht mehr in der Mine zu arbeiten", sagt Tonello. Der Beginn war mühsam. Projekte scheiterten, Produkte fanden keine Abnehmer – bis ein Zufall den Schweizer Sepp Dubach nach Salinas führte. "Für ihn war das hier ein Traum", sagt Antonio Polo.
Dubach brachte den Menschen bei, Schweizer Käse herzustellen und sorgte für den Marktzugang: Ein Laden an einem zentralen Markt in Quito vertrieb nun den Käse – der Durchbruch. Ein Foto Dubachs, der später bei Quito von Einbrechern ermordet wurde, hängt noch heute in fast jedem Wohnzimmer in Salinas.
Eher ein Lebensprozess als ein Projekt
Das Projekt wuchs, es entstanden Arbeitsplätze in der Verwaltung der Kooperative. Heute verdienen alle Bewohner mindestens den Mindestlohn von rund 370 Dollar, niemand aber mehr als 1.000 Dollar. Gleichheit und Gerechtigkeit waren immer wichtige Grundsätze in Salinas. Polo, heute 78, hat das Dorf nie mehr verlassen, ist auch dessen Priester. Beim Rundgang durch Salinas grüßen ihn alle, immer freundlich, manchmal ehrfürchtig. "Wir haben hier immer mit den Menschen zusammengelebt, und das war glaube ich fundamental", sagt er. "Das war hier immer eher ein Lebensprozess als ein Projekt."
"Wir mussten verstehen, dass wir den Menschen nicht unsere Mentalität aufzwingen dürfen, sondern ihre eigene Mentalität berücksichtigen mussten", ergänzt Tonello. "Sonst klappt gar nichts." Man müsse Respekt haben vor dem Lebensrhythmus vor Ort, müsse die Leute machen lassen, nicht zu viel vorschreiben. So gelang es, in Salinas etwas Dauerhaftes zu schaffen; etwas, woran andere Entwicklungsprojekte oft scheitern, wenn per Gießkannenprinzip Geld verteilt wird, das allzu oft in korrupten Kanälen versickert. Versiegt aber der Geldstrom, bricht alles zusammen.
Auch Salinas ist bis heute auf Hilfe von außen angewiesen. Tonello zufolge kann die Gemeinschaft aktuell auf Kredite von rund einer Million Dollar bauen. Deutscher Entwicklungsdienst und Welthungerhilfe engagieren sich mit Freiwilligen. Jedoch habe man immer nur Kredite erhalten, nie Schenkungen, betont Tonello: "Wir wollten, dass die Leute das selbst schaffen und mit dem Prozess wachsen." Mit den Krediten wird heute vor allem investiert, etwa in neue Maschinen.
Was wird aus Salinas ohne Padre Antonio?
Der schweizerische Ökonom Patric Hollenstein, der an der Uni in Quito Solidarische Ökonomie lehrt, hält den Erfolg in Salinas für beispielhaft, weist aber auf zwei Probleme hin. Zum einen fehle im Vergleich zu nicht von außen angestoßenen Modellen solidarischen Wirtschaftens – wie etwa in Taiwan – stärkere Produktdiversifizierung; zum anderen mehr Leute, die das Modell tragen. "Wenn in Salinas die Einzelorganisationen verschwinden, verschwindet das gesamte Modell", sagt Hollenstein.
"Die entscheidende Frage ist: Was wird aus Salinas ohne Padre Antonio?", weiß auch Tonello. Er glaubt: "Alles, was die wirtschaftliche Situation der Menschen direkt betrifft, werden sie verteidigen." Auch könne er sich vorstellen, dass Salinas zu einer offenen Schule wird; dass "jeder kommen und einen Monat in der Käserei verbringen kann, um zu lernen."
Dass die jungen Leute die Vergangenheit nicht vergessen und die Errungenschaften wertschätzen, ist auch ein Anliegen Antonio Polos. Sein nächstes Projekt ist daher ein Museum. "Ich weiß nicht, was aus Salinas geworden wäre, wenn Padre Antonio und seine Leute damals nicht hierhergekommen wären", sagt Don Samuel Ramírez. "Dass wir heute mit unseren Familien auf unserem eigenen Land leben können und alle Arbeit haben, das macht schon sehr zufrieden."