Suchen viele Menschen nach dem Attentat in Berlin Hilfe bei der Notfallseelsorge?
Irene Derwein: Die Anrufe kommen erfahrungsgemäß etwas später. Viele Menschen glauben erst einmal, dass sie damit gut allein zu Recht kommen. Sie melden sich dann bei uns, wenn sie merken, dass das Ereignis sie doch sehr beschäftigt oder im Alltag einschränkt.
Was macht die Nachricht mit uns, dass zwölf Menschen von einem Laster auf einem Berliner Weihnachtsmarkt getötet wurden?
Derwein: Der Weihnachtsmarkt als Tatort ist ein sehr symbolträchtiger Ort und greift uns an, weil er mit vielen persönlichen Erinnerungen und Emotionen besetzt ist: mit der Adventszeit, mit Festlichkeit und mit Weihnachten. Wir sind Menschen, die in Gemeinschaft leben. Da ist es völlig normal und verständlich, auf diesen Anschlag mit Entsetzen, Trauer, Anteilnahme oder erhöhter Wachsamkeit zu reagieren. Da muss sich keiner wegen seiner Gefühle schämen. Vielleicht will man das Ganze auch erst einmal in der ganzen Bandreite nicht wahrhaben und hat erst einmal geglaubt, alles sei ein Unfall. Auch Angst ist eine normale Reaktion auf das, was geschehen ist. Man hat beispielsweise Angst um Menschen, die man möglicherweise in Berlin kennt und sorgt sich um sie. Das kann einen verunsichern und zu Überlegungen führen, ob das Unglück auch hier, meiner Familie, meinen Freunden und mir passieren könnte. Eigentlich kann die ganze Bandbreite der Emotionen und Gefühle über einen kommen, auch Ärger und Wut.
Wie schafft man es, sich nicht von seiner Angst oder Wut überwältigen zu lassen?
Derwein: Wichtig ist, sich der Situation und seinen Gefühlen klar zu werden und sich bewusst zu machen, dass es nicht gut ist, sich der Angst auszuliefern. Angst und Wut dürfen nicht das eigene Handeln und Denken beherrschen! Aus Angst darf man sich nicht einschließen, soll die Straße, den Weihnachtsmarkt oder den Gottesdienst nicht meiden. Wichtig ist, mit der Angst, die man hat und die man spürt und die ja auch zum Teil berechtigt ist, nicht allein zu bleiben. Dabei kann einem helfen, mit anderen über das Vorgefallene zu reden, im vertrauten Kreis oder in Gruppen, die sich damit beschäftigen. Wichtig ist, ruhig zu bleiben und nur gesicherten Informationen über das Ereignis zu glauben. Man darf sich nicht von Gerüchten, lautstarken Meinungen oder voreiligen Rückschlüssen verunsichern lassen. Rituale können einem dabei helfen, das Geschehene besser verarbeiten zu können und Halt zu finden. Das kann das Anzünden einer Kerze in der Kirche sein oder der Besuch eines Gottesdienstes. Wer gläubig ist, dem hilft, das Ereignis vor Gott zu bringen, es ihm vorzulegen. Hilfreich ist auch, für sich zu überlegen, ob es schon einmal ähnliche Situationen gab, in denen ich Angst hatte. Und sich zu überlegen, ob das, was mir damals geholfen hatte, auch in meinem Handeln, in meinem Alltag eine Hilfe sein könnte, um mit der Angst umzugehen.
Haben Sie Tipps, wie man mittelfristig mit seinen Ängsten klar kommt?
Derwein: Wer merkt, dass das Unglück einen stark beschäftigt, der sollte beobachten, ob sich auch das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer verändert. Zieht sich mein Lebenspartner zurück? Verhalten sich die Kinder anders? Wenn einem etwas auffällt, sollte man das auch direkt ansprechen und fragen: "Beschäftigt Dich irgendetwas besonders?" Vielleicht ist es ja auch etwas anderes. Miteinander aufeinander achten ist ganz wichtig, wie auch das miteinander reden mit vertrauten Menschen. Die Angst wird man los, wenn man solange darüber redet, bis man merkt, dass man an das Ereignis denken kann, ohne dass die Emotionen so intensiv werden, wie sie einem im Moment hochkommen.
Haben Sie einen Ratschlag, wie Erwachsene Kindern helfen können, diese Katastrophe zu verarbeiten?
Derwein: Kinder bis zum zehnten Lebensjahr orientieren sich häufig am Verhalten der Erwachsenen. Deswegen ist es als Eltern oder Erzieher wichtig, sich gerade jetzt nicht ängstlich zu zeigen und sich nicht vom Leben zurückzuziehen. Die Kinder beobachten genau, wie Erwachsene, die ihre Vorbilder sind, reagieren und ahmen ihr Verhalten zum Teil nach. Jetzt ist es Zeit, miteinander zu reden. Und zwar darüber, was die Kinder beschäftigt. Man versucht Antworten auf ihre Fragen zu geben. Dabei ist es wichtig, erst einmal zu erfahren, wie sehr sie dieses Thema überhaupt beschäftigt. Auf Dauer sollte wieder versucht werden, einen möglichst normalen Tagesablauf zu haben und das Leben möglichst so zu leben, wie man es vor dem Ereignis geführt hatte. Es ist doch das Ziel des Terrors, Angst zu schüren und wir würden denen ja Recht geben, wenn wir uns jetzt verschließen und unser Leben nicht mehr leben.
Wie lange kann es dauern, bis die Angst und Unruhe wieder verschwinden?
Derwein: Das hängt ganz davon ab, was jetzt passiert. Wenn das ein einmaliges Ereignis ist, kann es sein, dass Angst und Unruhe in einem Monat abgeschwächt sind. Soviel Zeit sollte man sich lassen. Das ist aber gar nicht so einfach in unserer Zeit, wo keiner von uns mal so eben einen Monat Zeit hat. Wenn man selbst nun schöne Erlebnisse hat, können sie das schlimme Ereignis etwas aus dem Fokus der eigenen Aufmerksamkeit nehmen.
An wen kann man sich wenden, wenn man merkt, man kommt damit nicht zurecht?
Derwein: Die Notfallseelsorge kann jederzeit angerufen werden. Damit sollte man auch nicht zu lange warten, wenn man merkt, dass man damit irgendwie nicht klar kommt. Das gilt besonders dann, wenn man an nichts anderes mehr denken kann und wenn man keine Lust mehr hat, rauszugehen und einem die Angst Lebensqualität raubt.
Was hat Ihnen persönlich geholfen, um das Unglück zu verkraften?
Derwein: Ich habe erst einmal mit meiner Familie darüber gesprochen. Mir hilft es auch, dass ich das Unverständnis vor Gott tragen kann, das ich einen Ansprechpartner und einen Adressaten habe für meine Klagen, für meine Ängste, für mein Entsetzen.