Was ist das "neue Wir", von dem Sie sprechen und wofür Sie sich einsetzen?
Burkhard Hose ist katholischer Theologe. Seit 2008 ist er Studierendenpfarrer der Katholischen Hochschulgemeinde Würzburg. Seit Jahren setzt er sich für Geflüchtete, Asylbewerber und Randgruppen ein. Für sein Engagement wurde er unter anderem mit dem Würzburger Friedenspreis ausgezeichnet. 2016 erschien sein Buch "Aufstehen für ein neues Wir".
Was kann eine Einzelperson zum "neuen Wir" beitragen?
Hose: Tatsächlich kann sich jede und jeder auf Begegnungen einlassen. Es geht um die gesammelten Erfahrungen, denen man mehr Vertrauen schenken sollte als pauschalen Urteilen, die tagtäglich in irgendwelchen Talkshows wiedergegeben werden. Gerade im kommenden Wahljahr werden wir schwierige Zeiten vor uns haben, in denen uns viele Pauschalisierungen begegnen werden.
Mein Konzept ist, dass sich in der konkreten Begegnung mit Menschen noch einmal Vieles ändert, Vieles anders betrachtet werden kann. Und das geht eigentlich in alle Richtungen, egal ob ich mich auf eine Begegnung zwischen einem Geflüchteten und einem hier Geborenen einlasse oder mit jemandem, der in einer Behörde arbeitet.
Was bringt die Menschen dazu, zu pauschalisieren, anstatt wirklich den Menschen im Gegenüber zu sehen?
Hose: Inzwischen gibt es da eine ganze Reihe von Untersuchungen zu dem Thema. Ich glaube, dass es die Angst ist, die eigene Identität zu verlieren. Oder eben ein Zeichen von Identitätsschwäche. In den vergangenen Monaten habe ich mit großer Bewunderung festgestellt, dass es bei Menschen, die sich als Ordensleute oder Engagierte einer Kirchengemeinde ihrer christlichen Identität, ihrem christlichen Selbstbewusstsein gewiss sind, weniger Pauschalisierungen und Vorurteile gibt. Andere hingegen verwenden "das Christliche" als Kampfbegriff gegen Menschen, die nach Deutschland flüchten. Diese Menschen haben oft eine diffuse Vorstellung von Christlichkeit und es ist eher ein Platzhalter für eine Schwäche in ihrer eigenen Identität.
"Ich habe Angst um diejenigen, die schutzloser sind als ich."
Was kann ich denn jetzt persönlich dafür tun, dass ich mich mit meinem gegenüber als Mensch verstehe?
Hose: Für mich ist der Begriff der Empathie ein wesentlicher. In der Begegnung versuche ich, einen Moment inne zu halten und mich in mein Gegenüber rein zu fühlen. Viele unserer pauschalen Urteile, die herumschwirren, hängen damit zusammen, dass der Moment des Hineinfühlens in einen anderen Menschen fehlt. Wenn ich wahrnehme, wie sich jemand fühlt, der seine Heimat verlassen hat, wenn ich mich nur für einen Moment in ihn hineinversetze und darüber nachdenke, wie für mich diese Situation wäre, dann würde ich mich nicht pauschal äußern und sagen, dass es ein leichtfertiger Entschluss für ein paar Euro mehr war. Manchmal geht es tatsächlich um das bewusste Innehalten.
Ich halte Empathie für etwas sehr Kluges. Oft wird so getan, als ob auf der einen Seite die "gefühlsduseligen Gutmenschen" stünden, die den Luxus haben, empathisch zu sein, und auf der anderen Seite die kühlen Kalkulierer und Berechner, die Realisten. Dem ist nicht so. Ich würde mir wünschen, dass manche dieser sogenannten Realisten für einen Moment empathisch auf die Außengrenzen Europas schauen würden. Was da passiert, ist Realität. Und so kann es nicht weitergehen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass den Ängsten von Menschen kein "positiver Rassismus", der alle Flüchtlinge zu Opfern macht, entgegengesetzt werden darf, sondern dass auch die Menschen mit Ihren Ängsten ernst genommen werden sollen. Wovor haben Sie Angst?
Hose: Im Blick auf das kommende Jahr habe ich Angst vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft. Und ich habe Angst um die Menschen, die hierhergekommen sind und Schutz suchen, und die stattdessen auf Abwehr und Hass treffen und vielleicht sogar gefährdet sind. Ich hab nicht Angst um mich selbst, oder um Dinge, die sich um mich drehen. Ich habe Angst um diejenigen, die schutzloser sind als ich.
Trotzdem haben Sie ja in Ihrem Buch auch geschildert, wie Sie selbst auch immer wieder Opfer von Anfeindungen wurden, wenn Sie sich für Geflüchtete eingesetzt haben oder auf Pegida-Gegendemonstrationen gesprochen haben. Was bestärkt Sie in Ihrem Engagement?
Hose: Die tagtäglichen Begegnungen. Ich lebe mit Geflüchteten zusammen, denn es vergeht kein Tag, an dem ich nicht in Kontakt mit ihnen bin. Es sind Freundschaften gewachsen. Und für Freunde setzt man sich einfach ein! Das sind ja nicht irgendwelche anonymen Geflüchteten, sondern es sind Menschen. Und genauso, wie ich mich für meine Familie einsetze oder für andere Menschen die mir nahe sind, so setze ich mich auch für Geflüchtete ein.
Natürlich bin ich in meinem Engagement auch verbunden mit Menschen, die gleiches oder ähnliches tun, oder mehr tun als ich. Auch das ist etwas, das diese Erfahrung von Anfeindung in den Hintergrund treten lässt. Das macht mir keine Angst. Im Buch schildere ich Momente der Verunsicherung, denn so etwas zu erleben ist alles andere als angenehm. Aber es gab nie einen Moment, in dem ich dachte, dass ich in Zukunft die Finger davon lassen sollte.
"Aufstehen für ein neues Wir!" ist der Titel ihres Buches. Heißt das auch, zivilen Ungehorsam zu leisten? Wie weit darf man gehen, in Ihrem "neuen Wir"?
Hose: Aus meiner Perspektive als Christ und Theologe muss ich mir die Frage stellen: Gewährt der Staat mit seinen Gesetzen, die aktuell für Geflüchtete gelten, den Menschen in Not ausreichend Schutz? Vor einigen Jahren haben wir in der Hochschulgemeinde Kirchenasyl gewährt. Damit haben wir bewusst gegen eine gesetzliche Vorschrift verstoßen. Wir haben uns für diese Form zivilen Ungehorsams entschieden, weil in diesem konkreten Fall ein Mensch in seiner Not nicht ausreichend geschützt wurde. Zivilen Ungehorsam halte ich da für gerechtfertigt, wenn ein Mensch konkret in seiner Not betroffen ist und durch Gesetze nicht entsprechend geschützt ist.
"Es geht auch um Emotionen."
In Ihrem Buch schlagen Sie einen Perspektivwechsel vor, der von der Frage "Wie viele Fremde verträgt Deutschland?" weggeht. Wie viel Fremdenhass verträgt also Deutschland noch?
Hose: Für mich ist die Obergrenze längst erreicht. Allerdings müssen wir damit umgehen, dass es einen gewissen Prozentsatz an fremdenfeindlichen Einstellungen, Ressentiments und Vorurteilen gibt, die aus Ängsten oder pauschalisierten Urteilen hervorgehen. Es ist eine Herausforderung, diesen entgegenzuwirken. Hass hat immer etwas Zerstörerisches an sich. Insofern würde ich sagen, dass keine Gesellschaft Hass verträgt, auch keinen Fremdenhass. Eine Grenze ist immer dort erreicht, wo gegen Gesetze oder gegen die Würde eines Menschen verstoßen wird. Gerade im Hinblick auf soziale Netzwerke gibt es da eine Enthemmung, die mich sehr beunruhigt.
Was können Sie dem entgegensetzen?
Hose: Zum einen geht es um Aufklärungsarbeit, die auf der intellektuellen Schiene passieren muss. Aber es geht auch um Emotionen. Wir müssen dafür sorgen, dass es positive Erfahrungen, positive Begegnungen gibt, die solche auch auf der emotionalen Ebene gelagerten Vorbehalte oder Muster unterbrechen. Das ist mein Weg.