Im Hollywood-Kino haben Filme über Journalisten eine lange Tradition. Prototypisch für die Hommage an den investigativen Reporter, der wie ein Privatdetektiv ermittelt und sich auch durch Drohungen nicht einschüchtern lässt, ist Alan J. Pakulas Watergate-Klassiker "Die Unbestechlichen" (1976). Im deutschen Fernseh- und Kinofilm waren Journalisten, wenn überhaupt, meist kaputte Typen, die am Sinn ihres Berufs zweifeln ("Die Fälschung", 1981). Auch Jan Schulte, Hauptfigur dieses nicht immer auf Anhieb durchschaubaren, aber jederzeit spannenden Thrillers der Grimme-Preisträger Jochen Bitzer ("Der Fall Jacob von Metzler") und Brigitte Maria Bertele ("Grenzgang"), ist kein strahlender Held, aber für hiesige Verhältnisse kommt er dem Ideal schon ziemlich nahe.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Bitzers Buch beginnt mit einem konspirativen Treffen. Eine OP-Schwester überreicht Schulte (Benno Fürmann), Mitarbeiter der Zeitung "republik online", ein Dossier mit Unterlagen, die angeblich einen handfesten Skandal belegen: Die Gesundheitsministerin (Victoria Trauttmansdorff) soll dafür gesorgt haben, dass ihr Bruder bei einer Herztransplantation bevorzugt worden ist. Schulte lässt die Sache prüfen, doch dann verschwindet das Dossier über Nacht aus dem Tresor seines Chefs (Oliver Masucci); und plötzlich gerät die Redaktion ins Visier des Verfassungsschutzes. Die journalistische Ebene ist aber nur eine Seite der komplexen Geschichte. Die andere ist die Politik: Schulte lernt eine aufstrebende Nachwuchspolitikerin kennen. Sollten die Vorwürfe gegen die Ministerin der Wahrheit entsprechen, wäre Katharina Pflüger (Franziska Weisz) ihre designierte Nachfolgerin; der Reporter, der ein Verhältnis mit einer Kollegin (Jördis Triebel) hat, ist sichtbar angetan von dieser unbefangen wirkenden Frau, die sich wohltuend vom berechnenden Politbetrieb abhebt. Ihr Gegenentwurf ist der Pressesprecher (Devid Striesow) des Ministeriums, eine Shakespeare-Figur, die als "Spin-Doctor" mit einer Mischung aus Ehrgeiz und Opportunismus im Hintergrund die Fäden zieht.
Dank der Komplexität des Drehbuchs und der Figuren ist "Die vierte Gewalt" ein ausgesprochen vielschichtiges Werk: immer Thriller, aber auch Drama und Romanze; außerdem dank der nicht nur namhaften, sondern auch treffenden Besetzung ein Ensemblefilm, in dem sich immer wieder verblüffende Querverbindungen ergeben. Bitzer sorgt zudem für diverse überraschende Wendungen, weil keine der handelnden Personen ihr wahres Gesicht zeigt. Selbst dem idealistischen Schulte ist nicht zu trauen: Geschickt lässt der Film lange offen, ob die Zuneigung des Reporters zu Katharina Pflüger womöglich nur gespielt ist, weil er über sie an die Ministerin ran will.
Sinnvoll eingesetzter geteilter Bildschirm
Angesichts der differenzierten Geschichte lässt sich auch verschmerzen, dass das Drehbuch verschiedene Klischees bedient; so kungelt zum Beispiel der Zeitungsherausgeber (Ulrich Matthes) im Hinterzimmer der Macht mit der Ministerin. Auch die Dialoge klingen auf beiden Seiten mitunter entsprechend phrasenhaft. "Jetzt ist die Sau aus dem Stall, jetzt jagen wir sie durchs Dorf", sagt der Herausgeber. Und der Pressesprecher belehrt Pflüger: "Du bist Politikerin, du hast kein Privatleben". Immerhin vermengt Bitzer die Versatzstücke gerade im Fall der Hauptfigur zu einer realistischen Biografie: Schulte war einst ein renommierter Auslandskorrespondent, aber seine Zeitung ist eingestellt worden (mal ist von der "Financial Times Deutschland" die Rede, mal von der "Woche"). Nun schlägt sich der alleinerziehende Vater einer fast erwachsenen Tochter (Nicole Mercedes Müller) als freier Mitarbeiter einer Qualitätszeitung durch. Da das Mädchen auf eine teure Privatschule geht, hat Schulte erhebliche Geldsorgen, weshalb seine Gegner glauben, leichtes Spiel zu haben; die einen ködern ihn mit Geld, die anderen mit einer Festanstellung.
Dank des fesselnden Sujets und der ausnahmslos ausgezeichneten darstellerischen Leistungen muss Bertele (zuletzt "Ellas Entscheidung") die Spannung der Geschichte nicht auch noch künstlich zuspitzen. Auffälligstes Mittel der Bildgestaltung (Ngo The Chau) ist ein sinnvoll eingesetzter geteilter Bildschirm. Meist sorgt neben der Handlung vor allem die Musik (Julian Maas, Christoph M. Kaiser) für die Thriller-Atmosphäre. Trotzdem ist "Die vierte Gewalt" ein ungewöhnlicher Film für die vielfach ausgezeichnete Drama-Regisseurin, selbst wenn sie im letzten Jahr mit "Begierde - Mord im Zeichen des Zen" gezeigt hat, dass sie auch Krimi kann. Darstellerisch sind ihre Arbeiten ohnehin stets eine Klasse für sich. Als gelernte Schauspielerin weiß Bertele offenbar genau, wie sie ihre Akteure zu führen hat. Trotzdem ragt Franziska Weisz aus dem hochkarätigen Ensemble heraus, weil Bertele sie hier völlig anders inszeniert als in ihren Paraderollen als zähe und unnahbare Ermittlerin im "Tatort" oder in der ORF-Serie "Janus": Die Österreicherin interpretiert ihre Rolle fragil und verletzlich, was natürlich erklärt, warum sich der hartgesottene Journalist zu der Politikerin hinzugezogen fühlt; bis er sich fragt, ob auch Katharina Pflüger womöglich nur Teil des Komplotts ist, bei dem bis zum Schluss offen bleibt, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist.