Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen" (ARD)
6.11., ARD, 20.15 Uhr: "Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen"
Der "Islamische Staat" erobert mehr und mehr den Sonntagskrimi: Ähnlich wie in "Zorn Gottes" (März 2016, ebenfalls vom NDR) geht es auch in "Borowski und das verlorene Mädchen" um den Reiz, den der Heilige Krieg auf junge Deutsche ausübt.

Zentrale Figur ist diesmal allerdings eine Schülerin, die es gar nicht erwarten kann, einem islamistischen Landsmann in Syrien die Kampfpausen zu versüßen. Für das Krimi-Element sorgt zunächst jedoch ein Mord: Julia (Mala Emde) ist überzeugt, dass ihr Bruder eine Mitschülerin umbringen will, und alarmiert die Polizei. Die findet jedoch nur eine leere Wohnung; die junge Mutter ist verschwunden und hat ihr Baby der Obhut einer Nachbarin überlassen. Als später Leiche angeschwemmt wird, gerät auch Julia in Verdacht. Sie ist zum Islam konvertiert und verkehrt in einer Moschee, die vom Staatsschutz observiert wird, und jetzt wandelt sich der Film zu einem Krimi mit politischen Motiven: Julia soll als Lockvogel dienen, um an die Mittelsmänner des "IS" in der Türkei ranzukommen; dass die Schülerin dabei mutmaßlich auf de Strecke bleiben wird, ist dem Leiter der entsprechenden LKA-Abteilung egal.

Regisseur Raymond Ley hat für Dokudramen wie "Eichmanns Ende", "Eine mörderische Entscheidung" oder zuletzt "Meine Tochter Anne Frank" viele Auszeichnungen bekommen. "Borowski und das verlorene Mädchen" ist natürlich ein reiner Spielfilm, aber auch seine Hybridproduktionen bestehen überwiegend aus prominent besetzten Spielszenen. In den stets auf authentischen Ereignissen beruhenden Dokudramen ist die Dramaturgie vorgegeben; der "Tatort" dagegen muss aus sich selbst heraus Spannung aufbauen. Das gelingt Ley hier nur bedingt, weil die islamistische Ebene schon allein wegen der Befremdlichkeit ungleich intensiver ist als die eigentliche Mördersuche. Dass Ley diese Elemente, etwa die für deutsche Ohren gänzlich ungewohnte Sprache und die archaischen Ansichten, noch betont, könnte zudem dazu führen, ohnehin vorhandene Ressentiments gegenüber Moslems noch weiter zu schüren. Gerade angesichts der aufgeheizten Stimmung im Land wäre es umso notwendiger, dass auch ein Sonntagskrimi sensibel mit dem Thema umgeht. 

Interessanterweise spiegelt sich die Erleuchtung der immer glühenderen Islam-Novizin Julia keineswegs auch in ihrem Gesicht wider; Ley lässt die schöne Mala Emde, die schon seine Anna Frank war, schließlich wie einen gehirngewaschenen Zombie wirken. Dazu passt Julias hasserfüllter Monolog, eine akustischer Abschiedsbrief, der sich wie ein roter Faden durch den Film zieht.  über die westliche Welt und speziell die Mutter, der sie die Schuld am Unfalltod des Vaters gibt (der Krimi ist das erste verfilmte Drehbuch von Charlotte I. Pehlivani). Trotzdem kommen (wie auch schon in "Zorn Gottes") die Motive zu kurz. Julia sagt zwar, dass sie im Islam Antworten auf alle ihre Fragen gefunden hat, aber restlos überzeugend und nachvollziehbar ist der Konvertierungsprozess dennoch nicht. Das geht sogar den Figuren so. Gegen Ende stellt Kommissarin Sarah Brandt (Sibel Kekilli), in diesem Film die stärkste  Identifikationsfigur, die Frage, die der Film eigentlich beantworten müsste: "Warum setzt sich eine intelligente junge Frau dieser gewalttätigen Männerwelt aus?" Sie bezieht sich damit auf die Welt des "IS", die Ley immer wieder in Form authentischer Aufnahmen bärtiger Männer auf dem Kriegspfad zeigt, aber indirekte Gewalt erfährt Julia auch in Kiel, als sie vermummt unterwegs ist und verständnislose Blicke der Passanten erntet. Dass ihr ein Mann vor die Füße spuckt, wäre gar nicht nötig gewesen, die Botschaft ist auch vorher schon angekommen.

Fesselnder im Sinn von klassischer Krimispannung sind die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) und dem Kollegen vom Staatsschutz, den Jürgen Prochnow mit gewohnt kernigem Charme versieht; der Mann macht keinen Hehl daraus, dass ihn Einzelschicksale wenig interessieren. Leider treffen die beiden erfahrenen Schauspieler in diesem Film viel zu selten aufeinander. Die wenigen Szenen haben jedoch deutlich mehr Qualität als beispielsweise ein hitziges Gespräch zwischen Julia und ihrer Mutter, das wie ein Bühnenstreit wirkt; trotzdem beweist Mala Emde auch diesmal wieder ihr enormes Talent. Weitaus wirklicher sind die Szenen im Kommissariat, das sich Borowski und seine Kollegen mit Flüchtlingen teilen müssen. Die entsprechenden Szenen haben einen echten Hintergrund: Als Revier dient eine ehemalige Marineschule, die mittlerweile einige hundert Flüchtlinge beherbergt. Auf diese Weise kommt Borowski zu einem eigenen eifrigen kleinen Parkwächter; eine seltene humorvolle Note in diesem ausgesprochen düsteren "Tatort", der in ein angemessen dramatisches Finale mündet. Im Anschluss diskutiert Anne Will mit ihren Gästen über die Frage, warum aus jungen Deutschen radikale Islamisten werden.