Sie leben mit Ihrer Familie als Gemeindepfarrer in Washington D.C., das heißt Sie sind quasi Inländer, Nichtwähler, neutraler Beobachter. Wir hier in Europa verstehen so vieles nicht, können Sie uns zum Beispiel erklären, warum die demokratische Präsidentschaftskandidatin mit der Wall Street identifiziert wird und der republikanische Gegenkandidat mit dem kleinen Mann auf der Straße?
Wir hier fragen uns auch, warum ein mehrfach verheirateter Mann, der Frauen angrapscht, für Christinnen und Christen attraktiv ist?
Waßmuth: Erstmal: Es geht um ein bestimmtes Segment von Evangelikalen. Eine Reihe von prominenten Evangelikalen, zum Teil auch die einflussreiche Zeitschrift "Christianity Today", haben sich frühzeitig von Trump distanziert. Diejenigen, die ihn weiter unterstützen, mögen ihn auch nicht gerade. Aber sie drücken beide Augen zu, weil sie in ihm die einzige Chance sehen, die weitere Liberalisierung der amerikanischen Gesellschaft aufzuhalten. Dass heute 80 Prozent der Amerikaner zwischen 18 und 30 Jahren gleiche Rechte für Homosexuelle für ganz normal halten und die Organisation "Planned Parenthood" – vergleichbar mit "Pro Familia" – staatlich finanziert wird, gilt ihnen als Sittenverfall von apokalyptischem Ausmaß. Wenn Clinton siegt, wird der Liberalisierungsprozess weitergehen und vermutlich irreversibel sein. Der nächste Präsident wird wahrscheinlich mehrere der neun Obersten Richter der USA neu benennen – auf Lebenszeit! Damit wäre der bei Amerikas Konservativen beliebte Weg, liberale Gesetze über die Judikative zu bekämpfen, möglicherweise für Jahrzehnte versperrt. Und genau da lockt Donald Trump, wenn er verspricht, nur Abtreibungsgegner für den Supreme Court zu nominieren. Seine Person ist dann zweitranging.
Was schätzen seine Anhänger an Donald Trump?
Waßmuth: Das, was man auch anderswo an rechten Populisten schätzt: dass er sich freimütig für nationalen Egoismus ausspricht, dass er sich nicht um politische "Korrektheiten" schert, dass er Sündenbocke für alles benennt, dass er das Blaue vom Himmel verspricht. Die Tatsache, dass Trump reich und erfolgreich ist, macht ihn in den Augen vieler Amerikaner glaubwürdig. Business hat hier, wie schon gesagt, immer einen besseren Ruf als Politik. Auf absurde Weise gilt ein Geschäftsmann als ehrlicher und fleißiger. Schaut man etwas tiefer, dann liegt der Erfolg von Trump wohl daran, dass er verspricht, die massiven Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft aufzuhalten oder gar umzukehren, die viele weiße, bürgerliche Amerikaner beunruhigen.
Trumps Vorbehalte in der dritten Fernsehdebatte über das Wahlergebnis hat Entsetzen und viele Diskussionen ausgelöst. Ist es schon allein christliche Pflicht, Scheitern eingestehen zu können?
Waßmuth: Natürlich. Wir glauben, dass Gott in der Schwachheit mächtig ist. Trumps ständige Loser-Polemik verhöhnt die Schwachen. Aber man braucht gar kein christliches Ethos zu bemühen. Davon ist Trump unendlich weit entfernt. Es gehört einfach zu den Spielregeln der Demokratie, dass man eine Niederlage akzeptiert.
Clintons Ruf ist hierzulande nicht so schlecht, wie erklären Sie diese unterschiedlichen Bewertungen? Warum ist Hillary Clinton in den USA so verhasst? Es gibt ja sogar eine "Pledge"-Bewegung, wo Menschen ein Gelöbnis abgeben, sie nicht zu wählen.
Waßmuth: Der enorme Hass auf Hillary erklärt sich mir auch nicht ganz. Wahrscheinlich muss man 30 Jahre in diesem Land gelebt und die mediale Dauerpräsenz der Clintons in dieser Zeit erlebt haben, um das nachzuvollziehen. Wer Jahrzehnte Teil des inneren Zirkels der Macht ist, von dem erwartet man eben keinen frischen Wind. Eine gewisse Selbstherrlichkeit ist bei den Clintons wohl auch nicht zu leugnen. Die Art, wie über Hillary geschimpft wird, hat aber unterschwellig auch frauenfeindliche Züge – man kreidet ihr Machtbewusstsein, Arroganz und Kalkül an, die einem Mann niemals vorgeworfen würden. Dass wir Europäer Hillary Clinton anders beurteilen, mag daran liegen, dass wir eher auf die Fähigkeiten als auf die Person und ihr Umfeld schauen. Nüchtern betrachtet, ist Hillary Clinton für das Amt so qualifiziert wie kaum ein Kandidat zuvor.
Hier ist sie als methodistische Kirchgängerin bekannt, die ihrem Mann nach einem Fehltritt sogar verziehen hat – wird sie als christlich wahrgenommen?
Waßmuth: Nein. Hillary wird nicht als besonders christlich wahrgenommen – sie ist ja "pro choice", also keine Abtreibungsgegnerin. In diesem Land gibt es zwei vollständig verschiedene Sets von Überzeugungen, die von Christen vertreten werden. Die Spaltung in "Mainline Churches" und Evangelikale geht mitten durch die konfessionellen Traditionen hindurch. Die methodistische Kirche gehört zu der Gruppe liberaler Kirchen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen und zum Beispiel die "Black Lives Matter"-Bewegung unterstützen. Doch solches Engagement wird in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht als spezifisch christlich angesehen. Als christlich wird leider vor allem das andere Überzeugungsset identifiziert, das um sexualethische Fragen kreist. Leider übernehmen auch viele deutsche Medien diese Perspektive, wenn sie über "amerikanische Christen" berichten.
"Er würde er den Karren innerhalb kürzester Zeit vor die Wand fahren"
Rund 70 Prozent der US-Amerikaner sind christlich – spielt das Christentum trotz der strengen Trennung von Staat und Kirche im Wahlkampf eine Rolle?
Waßmuth: Es spielt eigentlich nur insofern eine Rolle, als das die Evangelikalen besonders für die Republikaner eine wichtige Wählergruppe sind. Neu ist in diesem Jahr, dass der republikanische Kandidat diese Wählergruppe spaltet. Die Spaltung des evangelikalen Lagers könnte langfristige Folgen haben – sowohl kirchlich als auch politisch. Darüber wird jetzt diskutiert. Die Trennung von Kirche und Staat hat übrigens zur Folge, dass es Kirchen gesetzlich verboten ist, in einem Wahlkampf einen konkreten Kandidaten zu unterstützen. Falls ein Pfarrer auf der Kanzel öffentlich einen Kandidaten "endorsed" (unterstützt), droht seiner Gemeinde der Verlust ihrer Steuerprivilegien. Das mag die Zurückhaltung vieler liberaler Kirchen erklärten, Donald Trump offen zu verurteilen. Sie tun das allerdings oft indirekt. So hat unsere Diözese der "Evangelical Lutheran Church in America" hier in Washington auf der letzten Synode eine Resolution gegen "Hass, Angstmache und Bigotterie im derzeitigen Wahlkampf" verabschiedet.
Im Blick auf politischen Stil und Hauptthemen, aber auch bezüglich möglicher Blockaden durch den Kongress: Wenn es ein Trump-Administration wird – wie denken Sie, dass sie ausfallen wird?
Waßmuth: Ich glaube, wenn Donald Trump ans Steuer käme, würde er den Karren innerhalb kürzester Zeit vor die Wand fahren. Er hat nicht die geringste Ahnung, wie die Abläufe funktionieren, ist bekanntlich beratungsresistent und hat auch nur zweitklassige Leute um sich versammelt. Trotzdem könnte er auch in kurzer Zeit viel Schaden anrichten.
Und wie schätzen Sie die Performance einer Clinton-Administration ein?
Waßmuth: Selbst ihre Gegner gestehen Hillary Clinton zu, dass sie das System beherrscht wie keine andere. Der Übergang würde reibungslos. Ich denke aber, dass Clinton sich bemühen würde, schnell ein paar deutliche Akzente zu setzen, um sich gegenüber Obama zu profilieren. Wie gut ihr das gelingt, hängt dann tatsächlich von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament ab.
Letzte Frage: Was glauben Sie – wird die Wahl knapp ausgehen?
Waßmuth: Sagen wir mal so: Wer jetzt sagt, dass der Wahlausgang sicher ist, wird mit dazu beitragen, dass er knapp wird. Andererseits: Die Welt braucht ein klares Votum, um Amerika weiterhin als demokratische Nation ernst zu nehmen. Und Amerika selbst braucht Klarheit für einen Neuanfang. Es ist schon viel kaputt gegangen.