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TV-Tipp: "Tatort: Echolot" (ARD)
30.10., ARD, 20.15 Uhr: "Tatort: Echolot"
Eine Figur ist zu Beginn gestorben und ganz ohne Rückblenden dennoch permanent präsent. In der Umsetzung ist "Echolot" mit Ausnahme des Finales, bei dem die visuellen Effekte eine wichtige Rolle spielen, jedoch längst nicht so ungewöhnlich wie der Inhalt

Die Handlung dieses ungewöhnlichen Krimis aus Bremen wäre noch origineller, wenn ein "Tatort" aus Stuttgart ("HAL") nicht vor zwei Monaten eine ganz ähnliche Geschichte erzählt hätte. Beide Filme behandeln das Thema künstliche Intelligenz und spielen in einer unmittelbar bevorstehenden Zukunft, in der die Übergänge zwischen Wirklichkeit und virtueller Realität kaum noch zu erkennen sind.

"Echolot" beginnt ganz analog: Ein Auto kommt bei hohem Tempo von der Straße und überschlägt sich, die Fahrerin stirbt. Später stellt sich raus, dass die Steuerungssoftware des Wagens so geschickt manipuliert worden ist, dass der Tod unausweichlich war. Davon ahnen Lürsen und Stedefreund (Sabine Postel, Oliver Mommsen) jedoch noch nichts, als sie der Mutter (Eleonore Weisgerber) die Todesnachricht überbringen. Die Frau reagiert völlig ungläubig, und das zu recht: Kaum ist die traurige Botschaft ausgesprochen, ruft die todgeglaubte Vanessa an. Verunsichert fahren die Ermittler zum Arbeitsplatz des Unfallopfers, wo sie tatsächlich von Vanessa begrüßt werden, die anscheinend per Videoschaltung mit ihnen kommuniziert. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ihr digitales Alter ego.

Die echte Vanessa ist in der Tat tot, was zu einem Unikum der "Tatort"-Geschichte führt: Die Nachricht vom Tod muss ein weiteres Mal überbracht werden. Mit der "Nessa" genannten Kopie ist dem Software-Unternehmen ein bahnbrechender Durchbruch bei der Schaffung einer künstlichen Intelligenz gelungen: Nessa ist nicht nur zu täuschend echter Kommunikation fähig, sie kann auch Emotionen zum Ausdruck bringen. Außerdem ist sie die optimierte Ausgabe ihrer Schöpferin: Während Vanessa zu Ungeduld und Jähzorn neigte, ist ihr Geschöpf zuvorkommend, höflich und kooperativ; und Vanessas Mutter weiß nun, warum ihre im persönlichen Umgang stets unleidliche Tochter am Telefon immer wie ausgewechselt war.

Freunde des Genres lösen den Mord schon früh

Für Science-Fiction-Fans ist die Interaktion zwischen Mensch und Maschine natürlich ein alter Hut. Die Frage, ob ein künstliches Wesen ein eigenes Bewusstsein entwickeln und sogar in der Lage sein kann, Gefühle zu empfinden, zieht sich durch die gesamte Historie des Genres. Autoren wie Philip K. Dick und Isaac Asimov haben sich immer wieder mit diesen Fragen befasst. Dicks Kurzgeschichte "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" (1968) bildete die Vorlage für Ridley Scotts Meilenstein "Blade Runner" (1982). Größeren Einfluss auf das Genre hatte allerdings Asimovs 1950 veröffentliche Kurzgeschichtensammlung "I, Robot", in der er auch die bis heute gültigen Robotergesetze formulierte; die gleichnamige Verfilmung (Alex Proyas, 2004) dürfte dem Autoren- und Regieduo Claudia Prietzel und Peter Henning (am Buch waren auch Christine Otto und Ben Braeunlich beteiligt) ebenso bekannt sein wie Stanley Kubricks Klassiker "2001 – Odyssee im Weltraum", auf den sich Niki Stein in seinem anspielungsreichen Film "HAL" bezieht.

Während Freunde des Genres die Lösung des Mordfalls also schon frühzeitig ahnen, tappen Lürsen und Stedefreund komplett im Dunklen; die digitale Welt ist ihnen ohnehin ein E-Book mit sieben Passwörtern. Das dürfte allerdings auch für die Mehrheit des Publikums gelten, weshalb eine kleine Einführung für alle Beteiligten von Nutzen ist. Die entsprechenden Ausführungen sind weder belehrend noch ermüdend, zumal das Autorenquartett auf diese Weise auch eine adäquate Verwendung für Linda Selb (Luise Wolfram) gefunden hat: Die hochbegabte, aber etwas menschenscheue BKA-Kollegin war Gast im letzten Fall ("Der hundertste Affe"), hat bleibenden Eindruck hinterlassen und darf daher auch diesmal wieder mitwirken, bleibt aber leider bloß eine Nebenfigur.

Die nächste Generation agiert unbefangen mit künstlicher Intelligenz

Innerhalb der gemeinsamen Filmografie von Prietzel und Henning ist "Echolot" ein Ausreißer. Zuletzt hat das Duo, das für Radio Bremen schon die "Tatort-Folgen "Scheherazade" (2005) und "Ordnung im Lot" (2012) gedreht hat, mit dem ZDF-Sonntagsfilm "Zweimal zweites Leben" eine klassische Liebesgeschichte erzählt. Andererseits ist auch "Echolot" in gewisser Weise ein Beziehungsfilm. Prietzel erklärt den Titel so: "Wie das Echolot die Tiefe des Meeres auslotet, loten wir die Tiefe der Verbindung zwischen Mensch und digitaler Welt aus" - und diese Welt wird von Nessa repräsentiert. Deshalb sorgt der Film für ein weiteres Unikum: Eine Figur ist zu Beginn gestorben und ganz ohne Rückblenden dennoch permanent präsent. Für Darstellerin Adina Vetter war die Doppelrolle fraglos reizvoll, denn in den Aufnahmen für die Schaffung der Kopie ist auch Vanessa zu sehen. Nessa wiederum steht Lürsen und Mommsen jederzeit Rede und Antwort und hat schließlich maßgeblichen Anteil an der Lösung des Falls. Für die Ermittler steht außer Frage, dass der Täter in den Reihen der Gesellschafter zu suchen ist, erst recht, als sich rausstellt, dass Vanessa ihre digitale Kopie abschalten wollte, was ihre drei Partner um viel Geld gebracht hätte. Unverdächtig scheint einzig ihr Mann David (Matthias Lier). Kai (Lasse Myhr) dagegen betreibt mit Nessa ohne Wissen der anderen eine japanische Pornoseite, Mastermind Paul (Christoph Schechinger) ist in Vanessa verliebt und nutzt die digitale Kopie als Sexersatz. Die entsprechenden "Virtual Reality"-Szenen sind schon deshalb reizvoll, weil Prietzel, Henning und Kameramann Kay Gauditz versucht haben, das 360-Grad-Erlebnis nachvollziehbar zu gestalten und dem Film dadurch eine weitere Dimension hinzufügen. Sehenswert ist auch die kunterbunte Einrichtung der Räumlichkeiten. Für Ausstatter Frank Godt (Deutscher Fernsehpreis für "Die Wölfe", Grimme-Preis für "Weissensee") muss das ein Fest gewesen sein: Die in einer verlassenen Fabrik untergebrachte Start-up-Firma wimmelt nur so von interessanten Requisiten, die eine auf eigenwillige Weise heimelige Atmosphäre verbreiten.

Eine interessante Rolle spielt auch die Vanessas kleine Tochter Lilly (Emilia Pieske), mit deren Hilfe Prietzel und Henning aufzeigen, wie unbefangen die nächste Generation mit künstlichen Intelligenzen interagieren wird. Für das Mädchen ist der leblose Körper Vanessas nur noch eine leere Hülle; die Seele ihrer Mutter ist ihr dank Nessa erhalten geblieben. Für diese emotionale Bindung steht das Lied "Lili Marleen", das Vanessa und auch Nessa dem Kind immer wieder vorsingen. Gerade auch dank der Kinderfigur dürfte "Echolot" den Erwartungen des "Tatort"-Stammpublikums womöglich eher entsprechen als Steins "Hal", der deutlich Science-Fiction-lastiger war. In der Umsetzung ist "Echolot" mit Ausnahme des Finales, bei dem die visuellen Effekte eine wichtige Rolle spielen, jedoch längst nicht so ungewöhnlich wie der Inhalt. Leider gilt das auch für den Schluss: Der ist genauso unspektakulär wie der Titel.