Pflege-Expertin Gansweid: "Wir messen keine Minuten mehr"
Barbara Gansweid hat das neue Begutachtungssystem in der Pflegeversicherung mitentwickelt. Es werde die Pflege verändern, sagt die Ärztin, die langjährig in leitender Position beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Westfalen-Lippe sowie auf Bundesebene tätig war. Seit August ist sie im Ruhestand, begleitet aber weiterhin Schulungen für Gutachterinnen und Gutachter, die ab 2017 das neue Verfahren anwenden.

Berlin (epd). epd: Frau Gansweid, warum ist die neue Begutachtungsmethode besser als die alte?

Barbara Gansweid: Alles was man unter Betreuung oder Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen versteht - etwa bei demenzkranken Menschen - fällt im derzeitigen Verfahren unter den Tisch. Heute misst man, wie viele Minuten ein Mensch Hilfe braucht beim Waschen, Anziehen, beim Toilettengang oder um vom Sessel ins Bett zu kommen. Für die Pflegestufe 1 muss man bei mindestens zwei dieser Verrichtungen täglich mindestens 46 Minuten Hilfe brauchen.

Bewertung der Selbstständigkeit

Wenn aber jemand eine Demenz im Anfangsstadium hat, dann funktioniert diese Methode zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht. Denn er oder sie kann sich beispielsweise noch selbst waschen. Das hat dieser Mensch ja 70 oder 80 Jahre lang jeden Tag gemacht. Aber er vergisst es jetzt. Man muss ihn also erinnern. Bei der gegenwärtigen Begutachtung zählen dann nur die Sekunden, die man braucht, um ihn ans Waschen zu erinnern.

Alles was drumherum passiert, wird nicht bewertet: Dass man diesen Menschen auch an andere Dinge erinnern muss, weil er seinen Tagesablauf nicht mehr kennt, dass er unruhig ist, Angst hat, herumläuft, sich vielleicht verläuft, dauernd Sachen verliert und sucht – diese ganze Not, die dazu führt, dass die pflegenden Angehörigen rund um die Uhr beschäftigt sind – das wurde nicht bewertet. Das wird jetzt besser.

epd: Was ändert sich?

Gansweid: Wir messen nicht mehr, wie viele Minuten ein Angehöriger oder eine Pflegekraft braucht für die Hilfe beim Waschen oder Essen, sondern wir bewerten, wie selbstständig oder unselbstständig ein Mensch ist. Wir fragen: Ist eine Fähigkeit noch ganz, teilweise oder gar nicht mehr vorhanden? Wir bewerten auch sein Verhalten, seine Fähigkeit, mit der eigenen Krankheit oder Gebrechlichkeit zurechtzukommen oder mit psychischen Problemen: zum Beispiel Unruhe, Ängsten oder aggressivem Verhalten – wo eine Pflegeperson eingreifen muss.

epd: Für die Einstufung in die neuen Pflegegrade ist es also egal, ob jemand dement oder ob er gebrechlich ist?

Gansweid: Ja. Für die Begutachtung gibt es künftig sechs Bereiche – wir nennen sie Module - die alles abdecken, was das Alltagsleben ausmacht. Damit können wir verschiedene Formen von Beeinträchtigung in einem einzigen Verfahren erfassen. Die einen brauchen mehr Beaufsichtigung und Anleitung bei der Tagesgestaltung, die anderen eher Hilfe bei der Körperpflege oder bei krankheitsbedingten Anforderungen wie Medikamentengabe, Verbänden oder Arztbesuchen.

Neues System ist gerechter

epd: Ist das neue Verfahren lebensnäher?

Gansweid: Unbedingt. Es ist näher an der Lebenswirklichkeit, und es ist gerechter. Es wird den tatsächlichen Tätigkeiten bei einer guten Pflege gerechter und begünstigt nicht nur die "Satt-und-Sauber"-Pflege. Bisher war es ja so: Je mehr gewaschen wurde, umso höher die Pflegestufe. Dabei ist für den Pflegebedürftigen ein beruhigendes Gespräch manchmal wichtiger als von Kopf bis Fuß gewaschen zu werden.

epd: Es ändert sich aber im nächsten Jahr nur die Begutachtung, nicht die Pflege. Warum glauben Sie, dass das neue Verfahren auch zu einer menschlicheren Pflege führt?

Gansweid: Es wird höhere Leistungen und auch mehr Auswahlmöglichkeiten für alle Beteiligten geben. Brauche ich als Angehöriger Hilfe bei der Grundpflege oder bei der Betreuung? Oder brauche ich vielleicht Hilfe im Haushalt, damit ich mehr Zeit für den Pflegebedürftigen habe?

Im ambulanten Sektor wird es darauf ankommen, wie die Pflege künftig aufgeteilt wird. Bisher ist es ja so, dass viele Angehörigen alles machen, was mit Betreuung und Kommunikation zu tun hat und den Pflegedienst kommen lassen zum Waschen und Anziehen. Künftig kann man aber nicht nur diese einzelnen Tätigkeiten, sondern Betreuungszeit "einkaufen". Beispielsweise könnte dann immer donnerstagsnachmittags der Pflegedienst zu meiner dementen Mutter kommen, damit ich als pflegende Angehörige mal drei Stunden Zeit für mich habe.

Langer und zäher Prozess

epd: Rechnen Sie auch mit Veränderungen in der stationären Pflege?

Gansweid: Im stationären Bereich wird sich das neue System sogar schneller auswirken. Die Heime können andere Angebote machen, für die es bisher kein Geld von der Pflegeversicherung gibt. Bisher ist die ganze Pflege-Dokumentation viel zu sehr ausgerichtet auf die körperlichen Verrichtungen. Wenn das anders wird, könnte man wieder mehr so pflegen, wie wir das ursprünglich gelernt haben - mehr auf die jeweiligen Bedürfnisse des Pflegebedürftigen eingehen unter Einbeziehung von Betreuung und Kommunikation. Das hoffe ich jedenfalls.

epd: War es eine Freude, dieses neue Verfahren zu entwickeln – oder ein mühsamer Prozess?

Gansweid: Beides. Uns als Gutachtern hat es regelrecht weh getan, gerade den Angehörigen von Demenzkranken sagen zu müssen: Diese Arbeit, die Sie machen, die dürfen wir nicht berücksichtigen. Die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen, die Eltern von kranken Kindern und die Pflegekräfte empfinden ja die Minutenpflege nicht als die richtige Pflege. Sondern Pflege ist das, was ich tun muss und möchte - was mich aber auch belastet und wobei ich entlastet werden muss. Uns war es ein Bedürfnis, das nicht mehr auszuklammern.

Es war dann trotzdem ein langer und zäher Prozess, der sich über zehn Jahre hingezogen hat – aber ich bin natürlich glücklich, dass er nun zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen ist.