Den Umgang mit Tod und Leid war Margaret Gene Arnstein gewohnt. Aber das, was sie hier erwarteten sollte, war selbst für die erfahrene Krankenschwester nur schwer in Worte zu fassen: "Wie schwierig es ist, während eines Sandsturmes Patienten im Zelt zu behandeln, muss man selbst erlebt haben, um es zu verstehen", hält Arnstein in ihren Notizen fest. Zehntausende Menschen drängen sich in dem überfüllten Lager, schreibt sie. Die Anzahl jener, die unter Scharlach, Keuchhusten oder Diphtherie leiden, nehme täglich zu. Hinzu kämen die Sprachbarrieren zu jenen Flüchtlingen, die in den letzten Monaten zu Zehntausenden übers Mittelmeer kamen, schreibt Arnstein. Das Datum der Aufzeichnung: 14. Mai 1944. Der Ort: das ägyptische Flüchtlingslager Al-Shatt. Die Flüchtlinge, von denen Arnstein schreibt: Europäer, die vor der Wehrmacht in den Nahen Osten flohen.
Vor allem die Aufzeichnungen der New Yorker Krankenschwester sind es, die heute Einblick geben in ein fast vergessenes Kapitel europäisch-nahöstlicher Fluchtgeschichte. Ein Kapitel, das trotz völlig unterschiedlicher Vorzeichen nicht ohne Parallelen zur heutigen Zeit auskommt: Schon einmal flüchteten damals Zehntausende vor einem mörderischen Krieg. Schon einmal war die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer für viele die einzige Chance, zu überleben. Nur fuhren die überfüllten Boote damals in die andere Richtung.
Die 1904 in New York geborene Margaret Gene Arnstein arbeitet im New Yorker Gesundheitsministerium als der Kriegseintritt der USA auch ihr Leben verändert: Sie wird zur Chefkrankenschwester der frisch gegründeten internationalen Flüchtlingsorganisation UNRRA für den Balkan und den Nahen Osten berufen. Etwa zur selben Zeit rücken deutsche Truppen im Winter 1943/44 nach Griechenland vor und errichten mit bulgarischen und italienischen Verbündeten ein brutales Besatzungsregime. Wie heute bietet auch damals die geographische Nähe zwischen den griechische Ägäis-Inseln und dem türkischen Festland zehntausenden Menschen die letzte Chance, dem Krieg zu entkommen. Nur statt Gummibooten waren es damals überfüllte Fischerkutter, die zwischen den griechischen Inseln und dem türkischen Festland pendelten.
Als Arnstein im März 1944 im mit 20.000 Menschen größten Flüchtlingslager El-Shatt ankommt, beginnt ihre Tätigkeit nicht nur als Krankenschwester, sondern auch als wichtigste Chronistin jener Zeit: Im "American Journal of Nursing" beschreibt sie später, welchen Schwierigkeiten Flüchtlinge, Ärzte und Krankenschwestern in den überbelegten und unterversorgten Lagern gegenüberstanden: "Zu Hause hätten wir niemals darüber nachgedacht, ein 85-Betten Krankenhaus mit Operationsraum mit nur einer ausgebildeten Krankenschwester und Hilfskräften zu betreiben, die nur drei Monate Training und sehr geringe Grundbildung hatten." Sie schreibt von dehydrierten Kleinkindern und schwindenden Medikamentenvorräten. Um sie herum: "kilometerweit nichts als Sand."
Aleppo wird zum ersten Zufluchtsort für europäische Migranten
El-Shatt ist nicht das einzige Lager, aus dem Arnstein berichtet. Mindestens neun Flüchtlingslager hatten britische Truppen in Syrien, Palästina und Ägypten aus dem sandigen Boden gestampft. Ein alter Transitbahnhof für Mekka-Pilger am Roten Meer wird zu Camp Moses Wells und bietet 2.000 Europäern Schutz. Im heutigen Gazastreifen ist es ein Militärstützpunkt australischer und polnischer Truppen, der als Flüchtlingslager Nuseirat bis zu 10.000 Menschen Zuflucht bietet.
Die erste Station für viele der europäische Migranten aber lautet: Aleppo. Am türkischen Festland angekommen, geht es für die Flüchtlinge per Anhalter in die Großstadt Izmir. Von dort aus bringt ein Zug die Migranten bis an den Hauptbahnhof der syrischen Metropole. Dafür, dass sie dort auch tatsächlich ankommen, sorgt schon damals ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Nur die Lastenverteilung ist eine andere als heute: Das Britische Militär versichert türkischen Behörden, jeden "entlaufenen" Europäer wieder zurück nach Griechenland oder Syrien zu nehmen.
Das Lager von Aleppo, das als eine Art Erstaufnahmeeinrichtung vom Geheimdienst der britischen Armee betrieben wird, scheint nicht nur für damalige Verhältnisse erstaunlich komfortabel zu sein. Von "Steinhütten mit Metalldach", teils sogar mit eigenen Ofen, ist in einem der Berichte der UNRRA die Rede. Dreimal täglich erhalten die Migranten in der Kantine des Lagers kostenlose Mahlzeiten. Wer will, findet im lagereigenen Shop Tee, Kaffee, Obst, Zigaretten und sogar Bier. "Es gibt keine Politik, körperlich fitte Flüchtlinge zur Arbeit zu zwingen", berichtet ein Beamter im Mai 1944 an seine Vorgesetzten. Ausgangssperren oder Lagerpflicht scheinen die Flüchtlinge damals auch nicht zu kennen. Stattdessen unternehmen sie Ausflüge zum Kino-Besuch in die Innenstadt von Aleppo.
Flüchtlinge werden zu Krankenschwestern ausgebildet
Nicht in allen Lagern des Nahen Osten sind die Regeln so locker: "'Keine Arbeit, kein Geld' ist eine Lagerregel" schreibt ein UNRRA-Mitarbeiter in einem Telegramm aus Moses Wells und echauffiert sich über die europäischen Zuwanderer: "Sie haben nur wenig Sinn für persönliche Hygiene und neigen dazu, sich über ihr Essen zu beschweren." Arbeitsfähige Flüchtlinge werden nach Qualifikation in vier Kategorien aufgeteilt: Bei den meisten handelt es sich um Bauern und Fischer. Für einfache Hilfstätigkeiten wie Putzen und Kochen erhalten sie für ihre Arbeit nach heutiger Kaufkraft nicht mehr als 15 Euro pro Woche. Nur eine Gruppe erhält einen Sonderstatus und wird zu besseren Konditionen direkt bei der Lagerverwaltung angestellt: Krankenschwestern.
Warum das so ist, erklärt Arnstein in ihren Aufzeichungen: "Das Problem der unzureichenden Anzahl an Krankenschwestern stellt alle anderen in den Schatten", schreibt sie in einer ihrer Notizen und macht aus der Not eine Tugend. In Moses Wells, Nuseirat und El-Shatt lässt sie Flüchtlinge zu Krankenschwestern ausbilden. Arnsteins Krankenschwester-Workshops werden zur Erfolgsgeschichte. Im März 1944 meldet eine von Arnsteins Ausbilderinnen per Telegramm volle Kurse und lange Wartelisten: "Sie zeigen große Begeisterung und leisten großartige Arbeit", schreibt sie über die Flüchtlinge. Einen Monat später wendet sie sich erneut an Arnstein: Die Ausbildung laufe so gut, dass die Uniformen knapp würden.
Eine Willkommenskultur gab es schon 1944
Arnstein ist nicht die einzige, die den Europäern hilft. Mehrere Berichte der UNRRA zeugen von der Willkommenskultur jener Tage: Hilfsorganisationen aus aller Welt, griechische Behörden und Anwohner versuchen, den europäischen Vertriebenen das Leben zu erleichtern. Aus Kanada, den USA und Großbritannien treffen Kleiderspenden für die Flüchtlinge ein. Freiwillige aus Schottland, England, Neuseeland, Kanada, den USA, Dänemark, Griechenland, Jugoslawien, Palästina, Polen, Tschechien und Ägypten kümmern sich um die europäischen Flüchtlinge. In Aleppo können Kinder halbtags zur Schule; im Zeltlager von Nuseirat eröffnet 1944 eine Bibliothek, in der Englisch-Kurse angeboten werden. In Moses Wells und El-Shatt werden Männer zu Zimmermännern weitergebildet und Frauen erhalten Nähunterricht. Und in Kairo spenden Schulen Unterrichtsmaterialien für die neuen europäischen Nachbarn, die teils bis zu drei Jahre in den Lagern des Nahen Ostens auf ihre Rückkehr warten müssen.
Erst als im Mai 1945 griechische Partisanen auch die letzten Nazis von den Ägäis-Inseln vertrieben haben, fahren einmal mehr Flüchtlingsboote übers Mittelmeer. Diesmal in Richtung Europa. Auf überfüllten Transportschiffen bringt die UNRRA zehntausende Europäer zurück in ihre zerstörte Heimat. Auch mit dabei: Margaret Arnstein. Im Juni 1945 verlässt sie den Nahen Osten und setzte ihre Arbeit an Orten fort, die man auch von der heutigen Flüchtlingskrise her kennt: in Flüchtlingslagern auf dem Balkan.