Berlin (epd). Kinder mit einer Lese-Rechtschreib- oder einer Rechenschwäche werden nach Einschätzung von Experten im deutschen Schulsystem immer noch benachteiligt. Etwa zehn Prozent der Kinder in Deutschland seien von Legasthenie oder Dyskalkulie betroffen, sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, am Freitag in Berlin.
Trotz erklärter Inklusionsabsichten werde für diese Kinder aber in unserem Bildungssystem überwiegend immer noch Exklusion, "also Ausschluss", praktiziert, kritisierte Becker. Die Gesellschaft könne sich aber ein Fallenlassen dieser Kinder sowohl aus ethischen wie auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten.
Ressourcen fehlen
Gemeinsam mit dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) hat die Kinderhilfe den 30. September zum bundesweiten Tag der Legasthenie und Dyskalkulie ausgerufen. Ziel ist es, auf die Belange der betroffenen Kinder aufmerksam zu machen sowie Politik, Gesellschaft und Lehrer stärker für das Thema zu sensibilisieren. Unter anderem fordern die Verbände, beide Themen zum festen Bestandteil eines jeden Lehramtsstudiums zu machen.
Bislang ist es den Lehrern weitgehend freigestellt, sich darin fortbilden zu lassen. In sieben Bundesländern gebe es zudem bislang überhaupt keine Regelungen zum schulischen Umgang mit Dyskalkulie, kritisierte BVL-Vorstand Tanja Scherle. "In vielen Schulen fehlen die Ressourcen, um den betroffenen Kindern einen Nachteilsausgleich zu ermöglichen. Das Personal ist zu knapp und es gibt keine Räume."
Kinder, deren Legasthenie oder Dyskalkulie zu spät erkannt werden, hätten häufig mit psychosomatischen Folgeerkrankungen zu kämpfen, warnte der Berliner Kinder- und Jugendpsychiater, Michael von Aster. Dazu gehörten Angststörungen, Depressionen oder Störungen im Sozialverhalten. "Frühes Erkennen und eine gute Förderung und Begleitung hilft dagegen, ein chronisches Schulscheitern zu verhindern", betonte er.
Elan ist auf der Strecke geblieben
Für eine bessere Unterstützung betroffener Kinder wirbt auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), der sich selbst als "bekennenden Legastheniker" bezeichnet. Er würde gerne allen betroffenen Kindern seine eigenen schmachvollen Erfahrungen ersparen. Er sei begeistert in seine Schulzeit gestartet, aber das Schulsystem habe ihm jeden Elan ausgetrieben.
Die Lese-Rechtschreibschwäche sei bei ihm nicht erkannt worden, stattdessen habe er als "stinkendfaul" gegolten. "Mit 18 musste ich mir schließlich eingestehen, ich kann nicht schreiben", berichtete der Linken-Politiker. Erst als Erwachsener auf dem zweiten Bildungsweg habe er es geschafft, das Problem in den Griff zu bekommen. Sein Traum sei deshalb, dass es in jeder Klasse neben einem Lehrer noch einen weiteren Pädagogen gibt, der sich um solche Kinder kümmert, sagte Ramelow.