Bis heute gibt es ausgesprochen viele Menschen, die der Ansicht sind, Martin Luther habe die Bibel nicht übersetzt sondern verfasst. Selbst wer dies besser weiß, empfindet häufig eine enorme Ehrfurcht vor der Lutherbibel, die ihr nicht immer angemessen ist. Für einen lutherischen Christen ist in der Regel "Heilige Schrift" nicht etwa die Bibel, sondern die Bibel nach Martin Luther. Im evangelischen Gottesdienst ist sie das Maß aller Dinge. Wer Psalm 23 auswendig lernt, lernt ihn selbstverständlich in der Lutherübersetzung, und die Weihnachtsgeschichte darf auf Deutsch einfach nicht anders klingen als so, wie Luther sie übertragen hat.
Da ist ein kein Wunder, dass sich die Deutsche Bibelgesellschaft in Stuttgart, die nun die neue Lutherbibel herausgeben wird, als "Hüterin" der Lutherbibel versteht. Die Lutherbibel war und ist so etwas wie der Heilige Gral des deutschen Protestantismus. Sie muss behütet werden, also auch geschützt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie das "einigende Band" der evangelischen Kirche ist, wie es Hannelore Jahr, die Leiterin des Lektorats der Bibelgesellschaft formuliert. In der Tat: Die Bibelübersetzung Martin Luthers war durch die Jahrhunderte hinweg immer identitätsstiftend für den Protestantismus. Die katholische Kirche hatte wohl auch deswegen niemals eine wirklich Chance, diese Übersetzung zu nutzen, denn wer aus der Lutherbibel liest, zeigt dadurch, dass er Protestant ist.
Wenig Raum für andere Übersetzungen
Dabei sind die historische und die kulturelle Bedeutung der Übersetzung Luthers auch über die Konfessionsgrenzen hinaus anerkannt, und es ist eigentlich zu bedauern, dass es nicht möglich war, eine tatsächlich ökumenische deutschsprachige Bibelübersetzung zu haben. Der Versuch, eine tatsächliche "Einheits"-Übersetzung zu schaffen, die diesen Namen auch verdient, scheiterte 2005 unter anderem auch daran, dass die Lutherbibel für den Protestantismus eine so herausgehobene Bedeutung hat. (Direkter Anlass für den Bruch war allerdings, dass der katholische Teil der ökumenisch besetzten Kommission die römische Instruktion "Liturgiam Authenticam" aufoktroyieren wollte.) Den deutschen Protestanten reichte ihre Lutherbibel über mehrere Jahrhunderte. Zwar gab es immer wieder auch andere Übersetzungen des Bibeltextes ins Deutsche, aber diese hatten neben der Lutherbibel eigentlich höchstens eine Bedeutung für Spezialisten oder für Anfänger. Das tatsächlich ökumenische Projekt der "Guten Nachricht" wird aufgrund seiner erzählerischen Art, die sich streckenweise vom Urtext weit entfernt, bis heute eher belächelt. Wer sie im Gottesdienst einsetzt, kann mit entsprechend deutlichen Reaktionen rechnen.
Absichtlich schwerer zu verstehen
Dass die Lutherbibel einmal gerade durch ihre Verständlichkeit so großartig war, ist während der vielen Revisionen des Textes nicht vergessen worden. Das Wort vom "dem Volk aufs Maul schauen" schwebte wie eine Mahnung zur verständlichkeit über den verschiedenen Überarbeitungen der Lutherbibel. Doch wie soll man einerseits das sprachliche Erbe der Lutherbibel bewahren und hüten, während man andererseits versucht, den Text über Jahrhunderte hinweg verständlich zu halten? Wie soll man das "einigende Band" stabil halten, wenn man es ständig neu knüpft? Man muss sich der einen oder der anderen Seite mehr zuneigen, und mit der neuen Revision der Lutherbibel 2017 ist das deutlicher geschehen als bisher. Die neue Lutherbibel enthält "mehr Luther", sagt der Generalsekretär der Bibelgesellschaft, Christoph Rösel. In diesem Satz steckt eine Entscheidung, die weitreichende Folgen hat. Man hat sich bei der Revision der Lutherbibel tatsächlich gegen die Verständlichkeit entschieden – zugunsten der Wiedererkennbarkeit und Authentizität der Lutherbibel. Das, was einst die Lutherbibel ausmachte, nämlich, dass sie in einer tatsächlichen Volkssprache verfasst war, ist in der neuen Ausgabe nicht mehr leitend. Insofern wirkt die Bibelgesellschaft noch stärker als Hüterin der Lutherbibel als bisher. Die Lutherbibel wird zwar einerseits von Formulierungen befreit, die man im 21. Jahrhundert missverstehen muss, andererseits wird sie mehr zum Liebhaberstück.
Platz für mehr Interpretationen
Dieser Umstand wäre zu kritisieren, wenn die Herausgebenden nicht gleichzeitig deutlich machen würden, dass neben der Lutherbibel durchaus andere Bibelübersetzungen gut, nützlich und auch für den kirchlichen Gebrauch geeignet sind. Die Lutherbibel wird für die evangelische Kirche mit dieser Revision zu einer möglichen Bibelübersetzung unter anderen. Insofern kommt die Lutherbibel nun in der Postmoderne an. Sie ist immer noch für Vieles maßgeblich, doch kann der Verzicht auf die unbedingte Eingängigkeit und Verständlichkeit eben auch der Schritt sein, Bibelübersetzungen wie die Basisbibel oder die die Neue Genfer Übersetzung aufzuwerten. Diese beiden haben sich zur Aufgabe gemacht, nah am Urtext, aber überaus verständlich und zeitgemäß zu übersetzen. Indem die Lutherbibel 2017 sich stärker an der Sprache Luthers orientiert, macht sie den Raum für diese beiden Übersetzungen frei, sich quasi als Nachfolgerinnen der Lutherbibel zu etablieren.
Das ist auch theologisch von großer Bedeutung, denn je mehr Übersetzungen wir in unserer Kirche nutzen, desto klarer wird, dass es sich eben nicht um Originale handelt, sondern um Übertragungen, in denen grundsätzlich auch Interpretationen enthalten sind. Jede Übersetzung der Bibel, selbst jede Bibellektüre ist eine Interpretation und sollte stets als solche wahrgenommen werden. Sucht man nach der einen, gültigen Übersetzung, kommt man einem Fundamentalismus bedrohlich nahe. Stattdessen kann man sich mit der neuen Lutherbibel an Bekanntem freuen, Verlorenes wiederentdecken und sich darüber im Klaren sein, dass man hier eine Bibel in der Hand hat, neben der es andere gibt, deren Übersetzungen auf ihre Art ebenso gut sind.