Im Grunde handelt "Bergfried" von einer typischen Western-Geschichte: Ein Fremder kommt in ein abgelegenes Dorf. Aus Sicht der Einheimischen stellt er entschieden zu viele Fragen. Sein Interesse gilt vor allem den alten Männern. Jo Baier lässt die Motive des Mannes zwar lange im Unklaren, doch natürlich geht es um Rache. Aber wofür?
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Film beginnt mit einem Begräbnis; der junge Robert ist anlässlich der Beerdigung seines geliebten Großvaters in sein Dorf in den österreichischen Bergen zurückgekehrt. Die alte Frieda (Gisela Schneeberger) überreicht ihm eine Botschaft aus der Vergangenheit, die Baier in Form einer langen und mit einem verblüffenden Effekt eingeleiteten Rückblende erzählt: Als Robert ein kleiner Junge war, zu Beginn der Achtzigerjahre, ist eines Tages der Italiener Salvatore (Fabrizio Bucci) im Dorf aufgetaucht. Angeblich sammelt er Material für ein Buch. Roberts alleinerziehende Mutter Erna (Katharina Haudum), die sich aus Verehrung für Janis Joplin lieber Janis nennen ließ, findet großen Gefallen an dem gut aussehenden Fremden; auch Romy (Eva Herzig), die Wirtin des Gasthofs, ist sichtlich angetan. Den Männern im Dorf entgeht natürlich weder das Interesse der beiden Frauen noch die Neugier des Italieners, der heimlich fotografiert und Frieda fragt, was Romys Schwiegervater Eberwein (Werner Prinz) und Roberts Großvater Stockinger (Peter Simonischek) im Krieg gemacht haben. Immer wieder schieben sich erst akustische, dann auch optische Erinnerungsfetzen an ein grausiges Ereignis über die Bilder. Schließlich stellt sich raus, dass Salvatore vor vierzig Jahren als einziger ein Massaker überlebt hat, das deutsche Soldaten in seinem Heimatdorf verübt haben. Der Befehlshaber war ein SS-Mann mit einer Narbe am Kinn. Der glattrasierte Eberwein kommt somit nicht in Frage; Stockinger trägt einen Vollbart.
Die innere Spannung des Films resultiert gar nicht mal so sehr aus der Rachegeschichte, zumal sie zunächst ohnehin in den Hintergrund tritt. Viel interessanter ist die Unruhe, die Salvatore im Dorf auslöst. Baier ("Schwabenkinder"), mehrfach mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, hat einige herausragende historische Filme gedreht, aber am fesselndsten waren seine Werke immer dann, wenn sich die Hauptfiguren - wie in "Stauffenberg" oder "Nicht alle waren Mörder" – inmitten ihrer Feinde bewegen mussten. Die offene Feindseligkeit der Dorfbewohner trifft diese Stimmung exakt. Dass allein die Frauen zu Salvatore stehen, hat nicht nur mit seiner Attraktivität zu tun: Die Männer haben Blut an ihren Händen, und das gilt keineswegs nur für die Alten; eine der finstersten Figuren des Films ist Romys Mann Schorsch (Gerhard Liebmann), der im Rollstuhl sitzt und seinen Hass auf die Welt regelmäßig an seiner Frau auslässt. Dass sich Erna in den Italiener verliebt und damit natürlich auch die Hoffnung verknüpft, endlich aus dem Kaff zu entkommen, macht die Geschichte zumindest aus Sicht Salvatores zusätzlich kompliziert.
Fabrizio Bucci sprach kein Wort deutsch
Größeren Reiz bezieht "Bergfried" jedoch aus der finalen Konfrontation der beiden Männer. Dieses Herzstück des Films ist dank der Bildgestaltung durch Martin Gschlacht eine Szene von enormer Intensität. Zuvor ist Stockinger stets mit dem kleinen Robert an seiner Seite zu sehen; der alte Mann ist ein ausgesprochen liebenswürdiger Großvater. Mit Erna springt er dagegen ganz anders um, aber aus Sicht der konservativen Dörfler ist die junge Frau auch völlig aus der Art geschlagen. Dass Simonischek die beiden Gesichter des Alten gleichermaßen glaubwürdig spielt, ist selbstredend keine Überraschung. Umso wichtiger war es, dass Baier einen Gegenspieler von Format fand, der dem Österreicher die Stirn bieten könnte. Fabrizio Bucci macht das fabelhaft, zumal er kein typisches Fernseh-Italienisch spricht. Sein starker Akzent lässt sich leicht erklären: Als er sich für die Rolle bewarb, konnte er kein Wort deutsch.
Ähnlich wichtig wie die Darsteller und die Bildgestaltung, die zum Teil von Baier selbst stammt und die frühherbstliche Steiermark nicht zuletzt dank der tiefhängenden Wolkenfetzen alles andere als heimelig erscheinen lässt, ist auch die Musik von Yullwin Mak. Das eindrucksvollste Bild hat sich der Regisseur jedoch für den Schluss aufgespart, als er mit einer ebenso einfachen wie wirkungsvollen Geste verdeutlicht, welche Folgen Salvatores Brief aus der Vergangenheit für Robert hat.